Die Untiefen des Internets bieten bekanntlich Raum für die verrücktesten Ideen. Manche sind genial und können die Art, wie wir bestimmte Dinge tun, völlig verändern. Andere sind kompletter Unfug, der besser nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätte. Das Thema klettern bildet da natürlich keine Ausnahme. Bei meinen Recherchen bin ich vor ein paar Monaten über einen Forenbeitrag gestolpert, der dem Streitthema Kletterschuhe einen neuen Ansatz hinzufügt. Glaubt man dem Ersteller, brauchen Kletterschuhe nicht eng sein, nicht einmal passen. Im Gegenteil: Wer große Schuhe trägt, wird seiner Meinung nach schneller stark. Ohne Frage ein spannender Gedanke! Aber was ist dran?
Was hinter der Idee steckt
Leider habe ich es damals versäumt, den Beitrag mit einem Bookmark zu versehen, kann die Zusammenhänge heute also nur aus dem Gedächtnis wiedergeben. Hintergrund des Forenthreads war aber die Bitte eines Klettereinsteigers um Hilfe bei der Schuhwahl. Genau genommen ging es darum, wie eng ein Kletterschuh sitzen muss, um die bestmögliche Performance zu bieten. Bekanntermaßen geistern dazu verschiedenste Ansichten durch die Community, wobei das Spektrum der Empfehlungen gewöhnlich von „bequem“ bis „schmerzhaft eng“ reicht. Dass Schuhe zu groß gekauft werden sollten, liest und hört man indes eher selten. Dabei soll das der Schlüssel zu einem effektiveren Training sein – so zumindest die Theorie des Tippgebers.
Um das zu untermauern, wurden mehrere Argumente geltend gemacht. Eines, dem sich viele erfahrenere Kletterer anschließen können, ist, dass Kletterschuhe für Boulderprobleme und Kletterrouten in niedrigen Graden gar nicht auf Performance ausgelegt sein müssen. Weil die Griffe und Tritte hier noch groß ausfallen, könne man diese zur Not auch in Turnschuhen klettern. Voraussetzung ist natürlich, dass der jeweilige Kletterer sich eine ausreichend gute Technik zulegt hat. Der Fan zu großer Kletterschuhe entwickelte diesen Gedanken aber noch weiter. Selbst wenn die Tritte und Griffe kleiner werden, hätten die großen Schuhe für das Training einen Vorteil. Um mit ihnen sicher zu stehen, müsse man mehr Körperspannung, mehr Fingerkraft und eine stärkere Zugmuskulatur vorweisen können. Folglich wird das Klettern körperlich fordernder und das Training effektiver.
Ineffizienz als neuer Standard?
Diese Idee ist nicht von der Hand zu weisen. Fällt es schwerer, auf den Füßen zu stehen, bekommt der Oberkörper mehr zu tun. Man muss also stärker sein, um die gleiche Schwierigkeit klettern zu können. Ist man es nicht, würde man in der Folge stärker werden. Schließlich passt sich der Körper an die an ihn gestellten Aufgaben an. Man könnte dem Ratschlag also folgen. Die Frage ist nur: Macht das wirklich Sinn?
Um das zu beantworten, muss man kurz darüber nachdenken, was der Kerngedanke dieses Trainingsansatzes ist. Im Forenbeitrag wird vorgeschlagen, auf alle Vorteile eines gut sitzenden Schuhs zu verzichten, um die Muskulatur des Oberkörpers stärker zu fordern. Oder anders gesagt: Man soll den Einsatz der Füße beim Klettern auf ein Minimum reduzieren. Bekanntermaßen ist Fußarbeit, die den Oberkörper maximal entlastet, ein Zeichen ausgezeichneter, weil effizienter Klettertechnik. Der eigentliche Vorschlag lautet also, mit schlechter und ineffizienter Technik zu klettern, um stärker zu werden.
Adieu Fußtechnik!
Man könnte argumentieren, dass so etwas zeitweise Platz im Training haben kann. Auf Dauer wird diese Herangehensweise aber eine ganze Reihe von Nachteilen haben, die den positiven Effekt auf das Training wieder zunichte machen. Das gilt besonders, wenn man nur ein Paar Kletterschuhe besitzt. Schließlich kann man dann nicht ohne Weiteres zu einem passenden Paar wechseln, wenn sich die negativen Auswirkungen bemerkbar machen.
Vor allem für Klettereinsteiger ist dieser Rat deshalb Gift – insbesondere mit Blick auf die Technikentwicklung. Weil hier eine solide Basis fehlt, kann falsches Schuhwerk den Aufbau einer guten Fußtechnik unmöglich machen. Ohne vernünftiges Gefühl für die Tritte entwickelt sich auch kein Vertrauen. Man lernt nicht, wie sich ein sicher platzierter Fuß anfühlt, oder was es heißt, die Beine tatsächlich einen guten Teil der Arbeit machen zu lassen. Der Oberkörper übernimmt diese Aufgabe also nicht, weil er es kann, sondern weil er es muss. Folglich bringt das Plus an aufgebauter Kraft keinen echten Vorteil. Sie wird komplett benötigt, um die fehlende Technik zu kompensieren.
Doch selbst fortgeschrittene Kletterer haben wenig von dem vermeintlichen Geheimtipp. Ein effizienter Kletterstil ist eine Frage der Koordination der gesamten Muskulatur des Körpers. Das erfordert Übung. Verbringt man einen großen Teil der Trainingszeit mit ineffizienten Bewegungen, leidet darunter die Fähigkeit, überhaupt effizient zu klettern. Also ist dieser Trainingstipp selbst dann mit Vorsicht zu genießen, wenn man bereits ein höheres Niveau erreicht hat.
Okay für die Füße, aber der Rest leidet
Mehr noch: Er birgt unabhängig von der Erfahrung des jeweiligen Kletterers sogar ein handfestes Sicherheitsrisiko. Mangelhafte Fußtechnik und schlecht sitzenden Schuhen sind die ideale Kombination, um die Füße unerwartet von den Tritten rutschen zu lassen. Das wiederum ist eine der häufigsten Ursachen für Finger- und Schulterverletzungen beim Klettern. Von schleichenden Überlastungserscheinungen ganz zu schweigen. Wer dauerhaft auf die Unterstützung der Füße verzichtet, muss sich also nicht wundern, wenn das schmerzhafte Konsequenzen hat.
Schon allein deshalb würde ich niemandem empfehlen, auf zu weite Schuhe als Trainingshilfe zu bauen. Es gibt genügend andere effiziente und sichere Möglichkeiten, stärker zu werden. Also kauft euch lieber einen passenden Schuh und lernt, eure Füße richtig einzusetzen. Schließlich macht sich ein Mehr an Kraft am Ende erst bemerkbar, wenn man in der Lage ist, es effektiv an die Wand zu bringen.