Vor Jahren, als ich selbst gerade erst mit dem Bouldern begonnen hatte, wurde mir von jemanden erzählt, Kraft sei beim Klettern völlig überbewertet. Demnach würden selbst manche Spitzenkletterer Schwierigkeiten haben, mehr als eine Handvoll Klimmzüge zu machen. Trotzdem wären sie in der Lage, die schwersten Routen der Welt zu klettern. Damals war ich beeindruckt, stellte mir aber auch die Frage, ob da wirklich etwas dran ist. Kann man tatsächlich schwer klettern, ohne körperlich überdurchschnittlich stark zu sein?
Kein Spitzenathlet ist nur durchschnittlich kräftig
Nach unzähligen Stunden an Klettervideokonsum bin ich mir zumindest einer Sache sicher: Den Spitzenkletterer, der kaum ein paar Klimmzüge schafft, gibt es nicht. Zwar sind längst nicht alle Topathleten Magnus Midtbøs, die das Campusboard auf und ab fliegen, an einer Grundübung wie den Klimmzügen scheitert aber niemand. Alles andere wäre auch überraschend gewesen. Sieht man von Platten ab, bei denen die Füße nahezu die komplette Arbeit übernehmen können, geht es beim Klettern und Bouldern nicht ohne die Hilfe der Zugmuskulatur des Oberkörpers. Besonders im steilen Gelände gerät man sonst schnell an die Grenzen. Weil diese Muskeln auch die sind, die uns beim Klimmzug nach oben bringen, schließen sich Höchstleistungen beim Klettern und Defizite an der Stange gegenseitig aus. Das wirft natürlich eine andere Frage auf: Macht mich Klimmzugtraining zu einem besseren Kletterer?
In diesem Video zeigen gleich mehrere Spitzenkletterer, was sie an Campusboard und Co können. Nicht jeder kann sich mit Alex Megos messen, an Klimmzügen scheitert aber niemand.
Belastung nah am Klettern
Wie bereits erwähnt, belasten Klimmzüge einen Großteil der Muskeln, die auch beim Klettern gebraucht werden. Das gilt besonders dann, wenn die Stange im Obergriff gehalten wird, also die Handflächen vom Gesicht wegzeigen. Gefordert sind die große Rückenmuskulatur, die Armbeuger und die Schultern. Sogar der Rumpf ist aktiviert und baut Körperspannung auf. Diese Muskeln mit Klimmzügen zu stärken, macht sich auch an der Wand bemerkbar, selbst wenn die Bewegungen beim Klettern und beim Training an der Stange nicht völlig identisch ausfallen. Vorteile ergeben sich immer dann, wenn die Tritte schlecht sind oder das Gelände steil ist und der Oberkörper einen großen Teil der Arbeit übernehmen muss. Für Boulderer ist eine solide Zugmuskulatur noch wichtiger. Weil hier athletische Züge schon in niedrigen Schwierigkeiten dominieren, ist reine Kraft eher als beim Sportklettern am Seil gefragt, um weiter voranzukommen. Deshalb gehören Klimmzüge zu den wenigen Übungen, die ich selbst blutigen Anfängern empfehlen würde, um die Grundlagen für eine erfolgreiche Kletterkarriere zu legen – erst recht dann, wenn schon nach deutlich fünf oder sechs Wiederholungen die Kraft zur Neige geht.
Stärker: ja, besser: vielleicht
Die Frage, ob das Klimmzugtraining jemanden zu einem besseren Kletterer macht, würde ich trotzdem nur mit einem Jein beantworten. Wenn du meine früheren Artikel kennst, dürftest du bereits wissen, dass Kraft am Ende nur ein Teil der Rezeptur ist. Gute Technik und die Fähigkeit, die eigenen mentalen Grenzen zu überwinden, sind ebenso wichtig. Wer in diesen Punkten Defizite hat, wird mit aller Kraft der Welt das eigene Potenzial nicht völlig ausschöpfen können. Umgekehrt bringen großartige Technik und die perfekte Psyche wenig, wenn die physischen Voraussetzungen für einen Boulder fehlen. Klimmzüge machen dich deshalb nicht unbedingt zu einem besseren, in jedem Fall aber zu einem stärkeren Kletterer. Am Ende eines Trainingstages noch einmal ein paar Wiederholungen an der Stange zu machen, hat also durchaus Sinn.
Weitere Teile dieser Serie:
Kraftfrage: Machen dich Klimmzüge zum besseren Boulderer?
Klimmzugtraining fürs Bouldern: Der schnelle Weg zu mehr Kraft in der Vertikalen
Ein Gedanke zu „Kraftfrage: Machen dich Klimmzüge zum besseren Boulderer?“