Sofort besser klettern: Die Kunst, den Körperschwerpunkt einzusetzen

Der Körperschwerpunkt ist beim Klettern ein großes Thema. Wie gut du mit ihm umzugehen weißt, entscheidet darüber, ob ein Zug dir leicht oder schwer fällt oder ob er überhaupt klappt. Platte? Überhang? Dynamisch oder statisch? Die Art der Kletterei macht keinen großen Unterschied. Wo sich dein Körperschwerpunkt während eines Zuges befindet, hat immer Einfluss darauf, was am Ende dabei herauskommt. Das kannst und solltest du für dich nutzen. Zu verstehen, was der Körperschwerpunkt ist, sich bewusst zu machen, wie du ihn für dich einsetzen kannst und dieses Wissen in der Praxis umzusetzen, kann dein Kletterkönnen sofort auf ein neues Level heben.

Was ist der Körperschwerpunkt?

Bevor wir zum praktischen Teil kommen, musst du erst einmal verstehen, was mit dem Körperschwerpunkt gemeint ist. Leider klingt die Antwort darauf erst einmal abstrakt. Per Definition handelt es sich beim Körperschwerpunkt um einen gedachten Punkt, an dem sich die Schwerkraftmomente aller Masseteile eines Körpers ausgleichen. Man spricht auch vom Massemittelpunkt. Wo der Körperschwerpunkt liegt, hängt von der Form des Körpers und der Verteilung der Masse ab. Bei einer Kugel aus Vollmaterial befindet er sich exakt im Zentrum. Andernfalls würden beispielsweise Billardkugeln nach dem Anstoßen eiern, wenn sie über den Tisch rollen.

Bei ungleichmäßig geformten Körpern wird es etwas komplizierter. Es kommt nicht nur darauf an, wo der größte Teil der Masse lagert, auch die Länge der Hebel der jeweiligen Körperteile spielt eine Rolle. Das Prinzip kennst du mit Sicherheit von einer Wippe. Sitzen an beiden Enden zwei gleich schwere Menschen, ist die Wippe ausbalanciert und kippt weder in die eine noch die andere Richtung. Ihr Schwerpunkt liegt dann genau über der Drehachse in der Mitte. Rückt eine der beiden Personen nun aber näher an die Mitte heran, wird sie angehoben. Die Masse auf beiden Seiten bleibt gleich, nur die Länge der Hebel hat sich verändert. Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt zur anderen Seite und die Balance geht verloren.

Wie alle Körper haben auch wir Menschen einen Schwerpunkt. Anders als bei einem festen Gegenstand ist der aber nicht immer an der gleichen Position. Stehen wir aufrecht, befindet er sich etwa auf Hüfthöhe mittig im Körper. Selbst leichte Bewegungen ändern das allerdings. Das dürftest du kennen, wenn du schon einmal auf einem Bordstein balanciert hast. Drohst du hier das Gleichgewicht zu verlieren, reicht es oft schon, einen Arm oder ein Bein wegzustrecken oder den Oberkörper zum Ausgleich in eine Richtung zu lehnen. Dabei verschiebt sich dein Schwerpunkt. Solange du es schaffst, ihn über deinem Standfuß zu halten, ist alles in Ordnung. Du stehst stabil. Wandert er allerdings nach links oder rechts, fängst du wieder an zu kippen und bist zur nächsten Gegenbewegung gezwungen.

Was balancieren und klettern gemeinsam haben

Die Kunst beim Balancieren ist es also, den Körper so zu positionieren, dass der Massemittelpunkt über dem Kontaktpunkt ruht. In dem Fall über deinem Fuß. Sobald dir das gelingt, befindet sich dein Körper in einer stabilen Position und es braucht wenig Kraft, um sie zu halten. Das lässt sich eins zu eins aufs Klettern übertragen. Am offensichtlichsten ist es, wenn du an der Platte auf einem Tritt balancieren musst, weil du es mit schlechten, kaum haltbaren Griffen zu tun bekommen hast. Findest du eine gute Position, kannst du deinen Fingern eine Pause gönnen. Stehst du hingegen wackelig, müssen sie ackern, damit die Schwerkraft dich nicht aus der Wand holt.

Hier zeigt sich, was den Körperschwerpunkt für das Klettern so wichtig macht. Denn die besten Kletterer sind nicht nur stark, sondern auch effizient und klettern kraftsparend. Genau das ermöglicht ein gut ausbalancierter Körperschwerpunkt. Aber selbst in Situationen, in denen es keine komplett stabile Position gibt, hilft dir ein clever verlagerter Schwerpunkt weiter, weil du dich leichter an der Wand halten kannst.

Wenn beim Bouldern die Tür aufschwingt

Beim Slacklinen geht es darum, den Körperschwerpunkt über der Line zu halten. Hier versucht der Slackliner mit den Armen und der Hüfte das Gleichgewicht zu bewahren.*

Damit endet sein Einfluss noch lange nicht. Denn auch während der normalen Kletterbewegung entscheidet seine Position im Raum darüber, wie ein Zug ausgeht. Das klassische Beispiel dafür sind Situationen, in denen du mit der offenen Tür zu kämpfen hast. Dabei sind die Griffe und Tritte so angeordnet, dass dein Körper wie eine Tür an den Angeln hängt. Stabilisieren kannst du dich über präzise Balance oder mit einem Bein oder einem Arm als Stopper, der die Tür vom Aufschwingen abhält.

Dass dein Körper aus der Wand pendelt, lässt sich trotzdem nicht immer verhindern. Deine Aufgabe ist es dann, die auftretenden Kräfte so weit zu reduzieren, dass sie dich nicht aus der Route ziehen. Am besten funktioniert das, wenn du deinen Körper bereits in die Richtung schiebst, in die du ohnehin pendeln wirst. Weil sich dadurch das Drehmoment verringert, also Kraft, die bei Rotation auf einen Körper wirkt, fällt es dir leichter, den aufkommenden Schwung abzuhalten.

Zur Erklärung: Die Größe des Drehmoments hängt davon ab, mit wie viel Kraft du aus der Wand gezogen wirst und wie groß der Radius der Drehbewegung ist. Verschiebst du den Körper in die richtige Richtung, pendelst du nicht ganz so weit aus der Wand, verkleinerst dadurch den Radius und erhöhst so deine Chancen auf Erfolg. Die Frage ist also oftmals nicht nur: Wie bleibe ich an der Wand stabil?, sondern auch: Wo muss mein Körperschwerpunkt sein, damit ich auch während eines Zugs nicht von ihm aus der Route getragen werden?

Warum bei Dynos die Hüfte mehr zählt als die Sprungkraft…

Es ist vielleicht weniger offensichtlich, aber das gleiche Prinzip gilt genauso für Sprünge. Besonders für das moderne Gefliege, bei dem du nicht mehr nur nach oben springst, sondern quer zur Wand unterwegs bist. Dabei mit der Hüfte – und damit mit dem Körperschwerpunkt – nah an der Wand zu sein, macht einen gewaltigen Unterschied. Einerseits verringerst du auch hier den Radius, in dem du um die Griffe rotierst, die du zu fangen versuchst. Andererseits verschaffst du dir mehr Zeit, um zuzufassen und so sicheren Halt an den angesprungenen Griffen zu finden.

Natürlich ist das leichter gesagt als getan, weil die Koordination stimmen muss. Anders als bei langsamen Kletterbewegungen, bei denen du deinen Körperschwerpunkt in Ruhe verlagern kannst, kommt es bei Dynos auf die Augenblicke vor dem Sprung an. Die Art, wie du den Zug mit der Ausholbewegung einleitest, entscheidet darüber, ob du im nächsten Moment nah genug in der Wand bleibst. Denn ist dein Körper einmal im Flug, hast du keinen Einfluss mehr darauf, wo dein Körperschwerpunkt dich hinzieht. Dynoexperten leiten ihre Flugphase deshalb mit der Hüfte ein. Sie holen erst aus und werfen den Körper in die Wand, bevor die Beine die Arbeit übernehmen. Gleichzeitig versuchen sie, den Körper so lange wie möglich mit den Händen in die richtige Richtung zu führen. Weil das ein wenig an eine Wellenbewegung erinnert, haben Klettertheoretiker dem Ganzen den Namen “Körperwelle” verpasst.

…und Fingerkraft an schlechten Griffen nicht alles ist.

An schlechten Griffen wie diesem Sloper musst du versuchen, den Körperschwerpunkt nah an der Wand zu halten. Wenn die Tritte so nah am Griff liegen, kommt es auch auf Hüftbeweglichkeit an.

Was gerade Klettereinsteiger überrascht: Die Position des Körperschwerpunkts macht einen gewaltigen Unterschied, wenn es darum geht, schlechtere Griffe sicher zu halten. Bei Henkeln und hinterschnittenen Leisten merkst du das vermutlich noch nicht. Sobald die Griffe sloprig – also rund und abschüssig – werden, lässt es sich nicht mehr ignorieren. Normalerweise versucht man dann, die Hüfte nah an die Wand zu bringen. Das hilft gleich doppelt: Zum einen verlagerst du dein Körpergewicht auf die Füße und entlastest deine Arme. Zum anderen verbesserst du damit die Richtung, in der du die Griffe belastest. Hängst du mit dem Körper aus der Wand heraus, ist das Risiko von schlechten Griffen abzurutschen sehr viel größer, als wenn du mit ihr auf Kuschelkurs gehst. Dabei spielt es keine große Rolle, ob die Grifffläche nach oben zeigt oder zur Seite gedreht ist. Einziger Unterschied ist, dass du dich bei seitlich geöffneten Griffen auch seitlich in sie hineinhängen solltest, während bei nach oben geöffneten eher unter dem Griff bleibst.

Das sind natürlich nur einige Beispiele dafür, wie der Körperschwerpunkt das Klettern beeinflusst. Was genau du in einem Boulder tun musst, ist von Boulder zu Boulder und Person zu Person verschieden. Trotzdem profitieren wir alle davon, unseren Körperschwerpunkt clever einzusetzen. Also, konzentriere dich beim nächsten Mal, wenn du an der Wand bist, nicht nur auf die Griffe oder Tritte, sondern achte auch darauf, was deine Hüfte macht. Das kann dir das Leben erheblich erleichtern.

*Bildquelle: Arne ListSlacklining in Kiel, CC BY-SA 3.0

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert