In meinem letzten Artikel zum Thema Etikette in Boulderhallen habe ich erklärt, warum das Chalken meiner Ansicht nach eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Der Text wurde – nicht ganz unerwartet – auch kritisch kommentiert. Ein Freund meinte: „Wenn ich eine Staublunge haben will, geh ich ins Zementwerk.“ Damit hat er einen wichtigen Punkt angesprochen. Denn wenn das weiße Pulver grammweise auf die Griffe geworfen wird, läuft genauso etwas verkehrt, als würde grundsätzlich keines verwendet.
Das eine und das andere Extrem
Zuerst einmal: Ich bleibe dabei. Schweiß hat auf den Griffen in einer Boulderhalle nichts verloren. Wer eine Route trotz schwitzender, ungechalkter Hände immer und immer wieder anfasst, bis die Griffe auch die letzte Reibung verloren haben, macht sich keine Freunde. Das gilt aber auch umgekehrt. Boulderer, die meinen, im Chalk baden und ihren Nachbarn anschließend beim Abblasen der Hände in einer Staubwolke verschwinden lassen zu müssen, sind ebenfalls ein Graus. Mein Freund hat recht, wenn er sagt, er wolle das Zeug nicht massenhaft in der Lunge haben. Und jeder, der bereits einmal einen weißgepuderten Griff gebürstet und dabei die Luft angehalten hat, wird es ähnlich sehen. Dazu zähle ich mich ebenfalls. Wenn ich also sage: „Benutz doch Chalk, verdammt noch mal!“ kommt das nicht der Aufforderung gleich, direkt für mich mitzuchalken.
Nach griffig kommt rutschig
Magnesiumkarbonat ist ein zweischneidiges Schwert. Fakt ist zum einen, dass es dank seiner Wasser bindenden Wirkung die Reibung zwischen Fingern und Klettergriffen verbessert. Fakt ist aber auch, dass zu viel Chalk den gegenteiligen Effekt hat. Weil das feine Pulver ähnlich wie Hautschuppen und -fette die Poren der Griffoberfläche zusetzt, kann sich die Haut ab einem gewissen Punkt nicht mehr mit den feinen Strukturen verzahnen. Die Reibung sinkt wieder. Es wird also schwieriger, zu gut gechalkte Griffe zu halten. An feuchten oder schwülwarmen Tagen kommt erschwerend hinzu, dass das Pulver die Luftfeuchtigkeit aufnimmt und damit einen leichten Schmierfilm bilden kann. Vom sagenhaften Grip, den man sich durch den Einsatz verspricht, bleibt dann nicht mehr viel übrig.
Den meisten erfahreneren Kletterern ist dieses Problem bekannt, weshalb man an fast jedem Chalkbag Bürsten in verschiedenen Größen hängen sieht. Sie werden genutzt, um überschüssiges Magnesia, wie Chalk auch genannt wird, von den Griffen zu schrubben und so die ursprüngliche Oberfläche wieder freizulegen. Auch das gehört zum guten Ton. Wer Chalk verwendet, sollte die Freundlichkeit besitzen, hin und wieder einmal einen Griff von seiner weißen Beschichtung zu befreien. Das ist aber nur eine der Empfehlungen, die es zu befolgen gilt, damit der Einsatz des Pulvers für alle Hallenbesucher in einem vertretbaren Rahmen bleibt:
Regel #1: Chalk ist kein Wundermittel!
Auch wenn nachgewiesen ist, dass Chalk bis zu einem gewissen Punkt eine beachtliche positive Wirkung auf die Reibung hat, wirst du nicht automatisch besser, nur weil du etwas mehr auf die Finger bringst, als von allein hält. Dass eher das Gegenteil der Fall ist, sollte nach den obigen Ausführungen klar sein. Verwende Chalk also vor allem, um deine Hände trocken zu halten. Wie viel du dafür brauchst, hängt davon ab, wie stark du schwitzt. Manche Menschen haben das Glück, selbst beim Klettern trockene Finger zu behalten, während andere nur an Griffe denken müssen, um bei ihren Handflächen einen pawlowschen Reflex auszulösen. In solchen Fällen kann Liquid-Chalk eine gute Wahl sein, um die Staubbelastung für die übrigen Hallenbesucher im Rahmen zu halten.
Regel #2: Chalk gehört auf die Hände, nur in Maßen auf die Griffe!
Da für uns alle gute Reibung wichtig ist, können wir Schweiß genauso wenig auf den Griffen gebrauchen wie eine dicke Chalk-Patina. Sorg also dafür, dass du deine Hände von überschüssigem Pulver befreist, bevor du an die Wand gehst. Vorzugsweise erledigst du das, indem du deine Hände noch im Chalkbag kurz aneinander reibst, um das Pulver abzustreifen. Finger und Handflächen sollten bepudert, nicht paniert sein.
Gründe, die Griffe direkt mit Magnesia zu behandeln, gibt es eigentlich nur zwei: Entweder sind diese frisch aus der Wäsche und haben noch kein Chalk gesehen oder sie wurden von schwitzigen Händen massiert. Dann kann ein wenig Chalk – am besten mit einem Stück Stoff aufgetupft – die Feuchtigkeit aufnehmen. Lässt man das kurz wirken und bürstet es im Anschluss herunter, wird die Reibung wieder etwas besser – sofern der Boulder nicht regelrecht belagert wurde. Ist die Oberfläche zu nass, hilft warten. Und manchmal nur noch der Kärcher.
An dieser Stelle noch einmal der Hinweis, dass der obige Absatz sich auf Hallen bezieht. In der Natur wird das bechalken von Griffen generell nicht gern gesehen. Ist ein Boulder draußen nass, kann man versuchen, ihn mit Zellstoff trocken zu legen. Oder man zieht weiter und verzichtet darauf, einen Haufen unnötigen Müll zu produzieren.
Regel #3: Was drauf geht, muss auch wieder runter!
Nicht jeder hat eine Bürste am Chalkbag, in vielen Hallen stehen sie aber mittlerweile für jedermann bereit – und sollten auch benutzt werden. Wenn man den Belag von den Griffen mit dem Spachtel herunterholen könnte, haben einige Leute das verpennt. Klar ist, dass du nicht jeden Boulder putzen brauchst, den du nach einem oder zwei Versuchen kletterst. Bei längeren Projekten solltest du aber selbst für Sauberkeit sorgen und alle paar Versuche die Bürste zücken. So hast du bessere Chancen auf den Durchstieg und hinterlässt deinen Nachfolgern ein kletterbares Problem.
Regel #4: Das richtige Equipment macht den Unterschied.
Solltest du regelmäßig oder sogar ausschließlich im Boulderbereich deiner Halle unterwegs sein, macht die Anschaffung eines Boulderbags Sinn. Diese Taschen sind groß genug, um beide Hände gleichzeitig zu chalken und anschließend noch im Inneren abzustreifen. Außerdem können sie ganz im Gegensatz zu herkömmlichen Chalkbags frei stehen, ohne umzufallen. Letztere sind dafür gemacht, an der Hüfte getragen zu werden und neigen dazu, ihren Inhalt über die Matte zu verteilen, wenn man sie auf den Boden legt oder von einem Boulder abspringt. Dass ein Boulderbag nicht mit an die Wand genommen werden kann, ist dabei kein Nachteil, da die meisten Boulder ohnehin kurz genug sind, um nicht nachchalken zu müssen.
Regel #5: Loses Chalk ist in der Halle die schlechteste Wahl.
Loses Chalk zu verwenden, ist zumindest in der Halle keine gute Idee. So effizient sich die Hände damit trockenlegen lassen, so sehr neigt das feine Pulver auch dazu, sich in der Raumluft zu verteilen. In meiner Heimathalle waren deshalb lange Zeit Chalkballs Pflicht. Ich persönlich bevorzuge allerdings Chalkbruch, bei dem große Stücke mit etwas Pulver versetzt werden. Dadurch erhalte ich eine gute Deckwirkung und verpeste nicht gleich die halbe Halle, wenn der Boulderbag doch einmal aus Versehen umgestoßen wird.
Regel #6: Lass die Griffe auch mal atmen!
Was ebenfalls hilft, den Chalkverbrauch und die Belastung der Umgebung im Rahmen zu halten, sind Pausen zwischen den Versuchen. Nimmst du dir ein paar Augenblicke Zeit, um dich zu erholen, kann eventuell auf die Griffe gekommener Schweiß verdunsten, während gleichzeitig deine Hände etwas abkühlen und weniger schwitzen. Besonders wichtig sind diese Pausen, wenn man gemeinsam mit einer größeren Gruppe projektiert. Hängt der Nächste schon an den Startgriffen, sobald sein Vorgänger abgefallen ist, verhindern nur noch größere Mengen Chalk, dass der Boulder nach ein paar Durchgängen im Saft steht. Spätestens wenn die Griffe langsam warm werden, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, besser ein paar Minuten einen Gang runterzuschalten.
Dieser Artikel ist Teil meiner Serie zur Boulderhallen-Etikette:
Boulderhallen-Etikette: Chalk? Mehr als nur ein Gimmick!
Boulderhallen-Etikette II: Die Schattenseiten des Chalks und wie du es richtig nutzt
Boulderhallen-Etikette III: Beta-Spraying oder: Ich weiß etwas, was du nicht wissen willst
2 Gedanken zu „Boulderhallen-Etikette II: Die Schattenseiten des Chalks und wie du es richtig nutzt“