Boulderhallen-Etikette: Chalk? Mehr als nur ein Gimmick!

„Benutz doch Chalk, verdammt noch mal!“ Dieser Satz geht mir mittlerweile häufiger durch den Kopf, wenn ich an Trainingstagen in meiner gut besuchten Heimathalle unterwegs bin. Manchmal würde ich notorischen Chalk-Verweigerern gern deutlich sagen, dass ich diesen Aspekt ihres Verhaltens – freundlich gesagt – unsozial finde, belasse es aber meist bei einem missbilligenden Blick. Oft genug handelt es sich beim Verursacher meines Unmuts um einen neuen Gast, wie das viel zu große Paar Leihschuhe an den Füßen schon aus der Entfernung verrät. Harsche Worte sorgen da allenfalls für Unverständnis und den Eindruck, Boulderer seien ziemlich unentspannte und unfreundliche Zeitgenossen. Das ist natürlich falsch, aber zugeschlonzte Griffe können schon ein wenig am Nervenkostüm kratzen. Aufklärung tut also not.

Am falschen Ende gespart

Zu allererst: Es ist ja nachvollziehbar! Halleneintritt und Leihschuhe, vielleicht noch ein Kaffee davor und eine Pizza danach – so ein Boulderhallenbesuch kann ganz schön ins Geld gehen. Da ist man versucht zu sparen, wo es geht. Und sei es nur die Leihgebühr für diesen kleinen Sack mit weißem Pulver. Davon liegt ohnehin schon genug auf der Matte, in der Luft tanzt der Staub und manche Griffe sind groß genug, um selbst dann noch Halt zu finden, wenn jemand sie mit Butter fetten würde. Also macht es doch nichts aus, wenn man das Chalken den anderen überlässt, richtig?

Sorry, aber nein! Wenn es nach mir ginge, würde die Verwendung von Chalk in den Hallenregeln festgeschrieben werden. Genauso wie dort steht, dass Straßenschuhe nichts auf der Matte oder auf den Griffen zu suchen haben, nicht in Socken beziehungsweise barfuß an der Wand herumgeturnt werden darf und die Besucher doch bitte ihre Kletterschuhe am Mattenrand lassen, wenn sie die Toilette besuchen. Tatsächlich bläue ich den Teilnehmern meiner Anfängerkurse ein: „Nutzt Chalk!“ Zu Beginn noch ohne den Nachdruck verleihenden Fluch. Später werden meine Schützlinge aber beharrlich daran erinnert, bis es auch der Letzte verstanden hat. Dafür gibt es gute Gründe.

Von Handschweiß und Reibung

Chalk ist ein Trocknungsmittel, das sich seit den 1950er Jahren im Klettersport verbreitet hat. Zuvor kannte man das Pulver im Turnen, von wo es das amerikanische Boulderurgestein John Gill importierte. Dass das Pudern der Hände nicht nur eine Marotte Gills blieb, sondern sich weltweit durchgesetzt hat, ist kein Zufall. Verwendet man Chalk, verbessert sich der Kraftschluss zwischen der Griffoberfläche und der Haut. Die Reibung steigt.

Da wird das Boulderherz schon beim Hinschauen schwer: Noch ein paar chalklose Versuche und diese Sloperzange ist unhaltbar.

Zu verdanken haben wir diesen Effekt der hygroskopischen Wirkung des Magnesiumkarbonats, das Hauptbestandteil der handelsüblichen Pulverpäckchen ist. Das Mittel nimmt den Handschweiß auf und verhindert, dass dieser den Griff durch Feuchtigkeit rutschig werden lässt. Gleichzeitig trocknet es die oberste Hautschicht und macht sie dadurch härter. Folglich kann sich die Haut besser mit der feinen Fels- oder Plastikstruktur verzahnen. Der Effekt dürfte nicht überraschen: Untersuchungen haben gezeigt, dass Kletterer mit Chalk bis zu 20 Prozent bessere Ergebnisse beim Halten von Griffen erzielen, als es ihnen ohne möglich ist.

Ein Argument für das Ausleihen eines Chalkbags könnte also sein, dass der Inhalt zu mehr Spaß beim Klettern beiträgt. Schließlich ist es wahrscheinlich, dass man sich während des Hallenbesuchs ein paar größere Erfolgserlebnisse verschaffen kann, wenn man zwischen den Versuchen jedes Mal ins Pulver langt. Andererseits dürfte das manchem taufrischen Neuboulderer relativ egal sein, schließlich sind viele Routen auf Einstiegsniveau dank ausladender Tritte auch ohne großen Krafteinsatz der Arme machbar. Auf das letzte Quäntchen Reibung kommt es also nicht immer an. Es gibt aber noch ein besseres Argument: Rücksicht auf die anderen Hallenbesucher!

Du boulderst nicht allein!

Das Problem ist, dass Handschweiß längst nicht unsere einzige Hinterlassenschaft auf den Griffen bleibt. Neben ihm landen dort bei jedem Zug Hautpartikel und Fettrückstände – sei es von der Haut oder der eingangs erwähnten Pizza. In Kombination bildet sich eine herrlich schmierige Patina, die die Reibung nicht nur für den Moment, sondern dauerhaft verschlechtert. Hat erst einmal eine Gruppe von No-Chalk-Aktivisten einen Boulder beackert, wird dieser für alle nachfolgenden Kletterer zur fingertechnischen Rutschpartie. Im schlimmsten Fall ändert sich das erst wieder, wenn die Griffe aus der Wand und unter eine Kärcher-Düse kommen. Chalk verhindert dieses Problem recht zuverlässig. Weil dem Griffbelag die Komponente Feuchtigkeit entzogen wird, lässt er sich gut mit einer Bürste entfernen. Ein Boulder bleibt so über Wochen kletterbar.

Weiß vor Staub müssen die Hände nicht sein, zumindest aber so gepudert, dass sie trocken sind. Für dieses Foto habe ich mit Liquid Chalk nachgeholfen.

Jetzt könnte man meinen, alles nicht so schlimm, betroffen werden ja vor allem einfache Routen mit riesigen Henkeln sein. Das wäre allerdings ein Trugschluss. Zum einen kommen unerfahrene Boulderer manchmal nicht mit den Griffen aus, die ihnen der Schrauber gegeben hat. Wenn ein Zug nicht klappt, wird in einem anderen Boulder zwischengegriffen oder ein Rettungsgriff gesucht, der den sicheren Abstieg erlaubt. Genauso gehört es aber auch zum Hallenalltag, dass Neulinge sich an verschiedensten Problemen ausprobieren, ohne einschätzen zu können, ob sie überhaupt eine Chance haben. Im Zweifelsfall wird einfach jeder vom Boden aus erreichbare Griffe genaustens befühlt, um schließlich von dannen zu ziehen, ohne überhaupt abgehoben zu sein. Zurück bleiben klatschnasse Startzüge, die dem Nächsten das Boulderleben garantiert etwas schwerer machen.

Nicht dass es zu Missverständnissen kommt: Gegen dieses Ausprobieren ist grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden. Jeder muss austesten, wo er steht, und die Herausforderung suchen, um besser zu werden. Aber bitte so, dass alle ihren Spaß haben können. Gehört man jedoch zur Gruppe derjenigen, die die Vorteile des Chalks noch nicht für sich entdeckt haben, ‘leiden’ unter dieser Entdeckungstour auch andere. Und das sorgt genauso wenig für ein gutes Hallenklima, wie der Anranzer eines genervten Stammgastes, doch jetzt gefälligst mal die Schwitzepatscher in einen Chalkbag zu stecken. Auf diese Art von Disput können wohl beide Seiten in ihrer Freizeit gut verzichten.

In diesem Sinne: Werte Anfänger*, nutzt Chalk! Bitte…

*Dieser Aufruf gilt natürlich auch allen anderen, die sich Kletterers weißem Liebling bisher verweigert haben.

Boulderhallen-Etikette: Chalk? Mehr als nur ein Gimmick!
Boulderhallen-Etikette II: Die Schattenseiten des Chalks und wie du es richtig nutzt
Boulderhallen-Etikette III: Beta-Spraying oder: Ich weiß etwas, was du nicht wissen willst

5 Gedanken zu „Boulderhallen-Etikette: Chalk? Mehr als nur ein Gimmick!

  1. Ich möchte hier etwas differenzieren. Ich bouldere seit Jahren und benutze nur selten Chalk, weil ich von Natur aus extrem trockene Hände habe, an denen ich nicht schwitze, auch nicht beim Bouldern. Benutze ich Chalk, tritt bei mir meist der Effekt ein, dass die Reibung wie die von Papier auf Papier ist. Pauschalen Chalk-Zwang fände ich für mich ziemlich daneben. Man sieht zB recht deutlich, dass meine Hände auf einem Volume, an dem ich mich einige MInuten festgehalten habe, keinen „feuchten“ Abdruck hinterlassen. Im Gegensatz zu anderen Boulderern, die zwar Chalk benutzen, aber trotzdem so schwitzen, dass trotz Chalk noch deutlich der Handabdruck stehen bleibt! Warum also Pauschalzwang für alle?

    1. Danke für deinen Kommentar. Der Einwand ist absolut berechtigt. Ich sitze aktuell an einem zweiten Artikel zum Thema, in dem ich thematisiere, warum zu viel Chalk auch nicht die Lösung ist und wie man es vernünftig einsetzt. Um was es mir geht, ist nicht, dass jeder Unmengen Magnesia verwendet, sondern es dann tut, wenn es nötig ist. Die Hände sollten einfach trocken sein, wenn man in einen Boulder geht. In den letzten Wochen hatte ich immer wieder das zweifelhafte Vergnügen, Boulder trockenlegen zu dürfen, nachdem sich eine größere Gruppe an ihnen verausgabt hatte, ohne zu chalken. Geht man in solchen Routen rein und schmiert dann unerwartet aus eigentlich guten Leisten oder Zangen, ist es schon ein wenig nervig.

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