Anfang November hieß es „Schotten dicht“ für deutsche Kletterhallen. Steigende Infektionszahlen veranlassten die Entscheider dazu, Teile der Wirtschaft in die Winterpause zu schicken. Wann die Hallen wieder öffnen, steht aktuell in den Sternen. Kletterer aller Leistungsklassen suchen deshalb nach Möglichkeiten, sich auch ohne die üblichen Sessions an buntem Plastik in Form zu halten. Wie genau das funktionieren kann, hängt davon ab, welche Möglichkeiten man zur Verfügung hat und wo man vor dem Lockdown stand. Für Fortgeschrittene mit wenigstens einem Jahr Klettererfahrung kann die Pause sich sogar als Chance entpuppen.
Als fortgeschrittener Kletterer im Lockdown
Wenn du die letzten ein oder zwei Jahre regelmäßig in der Kletterhalle trainieren warst und jetzt nur noch sporadisch ein paar Züge machen kannst, stellt sich dir möglicherweise eine Frage: Sorgt diese Situation dafür, dass viele Fortschritte Geschichte sind? Dass du am Ende körperlich wieder auf Anfängerniveau stehst und einstmals lösbare Probleme sich erneut unschaffbar anfühlen? Diese Angst liegt nahe und ist leider nicht völlig unbegründet. Als fortgeschrittener Kletterer verfügst du im Normalfall einerseits über eine solide Technikbasis und hast andererseits zusätzliche Fingerkraft und Körperspannung aufgebaut. Besser und stärker zu sein, bedeutet, schwerer klettern zu können. Mit etwas Glück bist du so eventuell schon in den 6., vielleicht sogar 7. Grad vorgestoßen. Was also tun?
Klar muss dir sein, dass Kraft anders als Technik nichts Permanentes ist. Um durch Training aufgebaute körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, braucht es regelmäßige Beanspruchung. Nur so können wir unseren Körper davon überzeugen, dass die vorgenommenen Verbesserungen immer noch nützlich und nötig sind. Fehlt diese körperliche Herausforderung, fällt man binnen einiger Monate wieder auf das Ausgangsniveau zurück. Anders als Klettereinsteiger, die vor allem von sich schnell verbessernder Technik profitieren, hängt die Leistung fortgeschrittener Kletterer zunehmend von der Physis ab. Folglich ist der beste Ansatz zum Leistungserhalt, dem Muskelabbau vorzubeugen. Körperliches Training ist also eine Grundvoraussetzung, um beim Neustart nicht tiefer stapeln zu müssen.
Wie kannst du trainieren?
Das beste Training fürs Klettern ist und bleibt das Klettern. Für viele von uns ist das aktuell ein großes Problem, weil mit der Schließung der heimischen Halle die bequemste Trainingsmöglichkeit weggefallen ist. Dass die Hallen geschlossen sind, bedeutet jedoch keinesfalls, dass zu klettern gar nicht mehr möglich ist. Der offensichtlichste Weg, trotzdem auf Klettermeter zu kommen, ist es, diese am Fels zu sammeln. Mit etwas Glück hast du in der näheren Umgebung einen Kletterspot, der für einen Tagesausflug geeignet und trotz der aktuellen Situation nicht gesperrt ist.
Das Klettern am Fels unterscheidet sich zwar stark von der Halle, hier liegt aber auch eine Chance für dich. Falls du bisher nur an Plastik unterwegs warst, wirst du lernen müssen, mit kleineren Griffen und Tritten auszukommen. Es braucht mehr Präzision, Körperspannung und kontrolliertere Bewegungen. Draußen zu klettern ist deshalb auch für Hallenboulderer ein wertvolles Techniktraining. Wichtig ist allerdings zu akzeptieren, dass das Verhalten am Fels ein anderes sein muss, um den Kletterspot vor Sperrungen zu schützen. Das gilt in der jetzigen Zeit noch einmal mehr, da der Druck in den Gebieten durch die Hallenschließungen gestiegen ist.
Sollte es dir schwer fallen, mit diesen Anforderungen umzugehen – oder dir schlicht die Möglichkeit fehlen, an den Fels zu fahren -, bleiben als Alternative private Wände. Im Jahr 2020 haben viele Kletterer den inneren Heimwerker entdeckt und eigene Trainingswände, zum Teil ganze Boulderbereiche, geschaffen. Tatsächlich ist der finanzielle Aufwand und Platzbedarf für einfache Lösungen überschaubar. Schließlich kann selbst eine nur einen Meter Breite Wand mit Zimmerhöhe ausreichen, das Training nah genug am richtigen Klettern zu halten, um es für Trainingsmuffel nicht langweilig werden zu lassen. Wer mehr Platz entbehren kann, sollte diesen natürlich nutzen. Ist die eigene Heimwand keine Option, kennst du vielleicht jemanden, der ein solches Projekt umgesetzt hat, und kannst dort gelegentlich trainieren.
Fingerboarden: minimalistisches, aber effektives Krafttraining
Was du im Hinterkopf behalten musst: Um die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, dürfen die Abstände zwischen diesen Sessions nicht zu groß werden. Eine Trainingseinheit pro Woche ist das Mindeste, zwei sind besser. Sollte diese Regelmäßigkeit sich nicht mit Einheiten am Fels oder an einer Heimwand erreichen lassen, bleibt als Alternative das Griffbrett. Griffbretter sind eine der besten Möglichkeiten für Kletterer, gezielt Fingerkraft aufzubauen. Möglicherweise hast du bisher noch keine Erfahrung mit diesen Geräten gesammelt, weil das Training an der Wand genügend Fortschritte ermöglicht hat. Dann ist die aktuelle Zwangspause die denkbar beste Gelegenheit, dich mit dieser neuen Trainingsform vertraut zu machen.
Platzbedarf und Aufwand beim Aufbau eines Griffbretts sind minimal. Es werden sogar Boards angeboten, die an einer Tür aufgehangen werden können. Manchmal ist aber nicht einmal das nötig. Hast du in deiner Wohnung eine Leiste, die dein Gewicht trägt, kannst du möglicherweise komplett auf ein Board verzichten. Stabile, breite Türrahmen sind beispielsweise eine Option.
Ein Nachteil des Hangboardtrainings ist, dass es relativ abwechslungsarm ausfällt. Um die Finger zu stärken, wird nach verschiedenen Zeitmustern gehangen. Die vielleicht einsteigerfreundlichste Variante ist das Training von Repeatern. Dabei hängst du für einige Sekunden am Board, pausierst für einige Sekunden und hängst dich dann erneut ans Board. Diese Intervalle absolvierst du für gewöhnlich für eine Minute, bevor eine längere Erholungspause folgt. Wie du das Training genau gestaltest und wie die richtige Technik aussieht, erkläre ich im verlinkten Video. Die ebenfalls gezeigten MaxHangs sind vor allem für „Kletterprofis“ geeignet, die bereits Erfahrung beim Hangboarden gesammelt haben.
Weniger ist mehr
Weil die Ermüdung bei Repeatern verhältnismäßig langsam herbeigeführt wird, ist eine plötzliche Überlastung eher unwahrscheinlich. Trotzdem darfst du sie nicht unterschätzen. Steigst du zu ambitioniert ins Training ein und absolvierst zu viele Sätze oder planst zu kurze Pausen zwischen den Einheiten ein, können sich schleichend Überlastungserscheinungen bemerkbar machen. Tatsächlich braucht es nicht viel, um mit Repeatern Fingerkraft aufzubauen. Schon zwei Einheiten mit drei bis fünf Sätzen pro Woche sind dafür ausreichend. Mehr als drei Sessions sind selbst in Zeiten, in denen du nicht klettern kannst, nicht empfehlenswert. Die Pausen zwischen den Einheiten sind dann zu kurz, um eine ausreichende Regeneration zu gewährleisten. Das verringert den Kraftzuwachs und erhöht das Verletzungsrisiko.
Zugegeben: Vergleich man das Hangboarden mit richtigem Klettern, ist das Training nicht sonderlich sexy. Trotzdem ist es wichtig, bei der Stange zu bleiben. Ziehst du dein Programm über ein bis zwei Monate konsequent durch, sind beachtliche Kraftzuwächse möglich, die beim Wiedereinstieg ins Klettern sogar für positive Überraschungen sorgen können. Das gilt nicht nur für Boulderer. Weil du bei Repeatern im Belastungsbereich der Kraftausdauer trainierst, bewahrst du dir deine Pumpresistenz. Anstatt an den letzten Zügen einer harten Sportroute abzutropfen, erhöhst du so deine Chance, den Umlenker zu klippen.
Finger sind nicht alles
Um die bestmögliche Ausgangssituation nach der Pause zu schaffen, lohnt es jedoch, mehr als die Fingerkraft im Blick zu halten. Auch die Zug- und Schultermuskulatur sowie die Körperspannung spielen für die Kletterleistung eine Rolle. Möglichkeiten, diese Aspekte zu trainieren, habe ich in einem früheren Artikel samt Video vorgestellt. Die darin erklärten Prinzipien zur Trainingsplanung kannst du als fortgeschrittener Kletterer genauso anwenden. Es spricht auch nichts dagegen, die Übungen für allgemeine Fitness mit dem Training am Griffbrett zu kombinieren, sollte dir die Zeit fehlen, allgemeines Training und Hangboarden auf mehrere Tage aufzuteilen.
Was kannst du nach der Pause erwarten?
Wenn du während des Lockdowns überhaupt keine Chance zu klettern bekommen hast, stell dich auf einen holprigen Start ein. Es ist normal, dass sich Bewegungen unrund anfühlen. Vielleicht hat auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten etwas gelitten. Selbst wenn du am Hangboard trainiert hast, ist das der Fall. Aber keine Sorge – die Sicherheit kehrt normalerweise schon in den ersten Sessions zurück. Stehst und bewegst du dich wieder routinierter, kommt die Veränderung deines Kraftpotenzials zum Tragen. Hast du den Lockdown für konsequentes Fingertraining genutzt, ist denkbar, dass du deine alten Bestmarken schnell erreichen und sogar überbieten kannst. Warst du komplett inaktiv, wird es wohl einige Wochen dauern, bis du dich von der Pause erholt hast.
Die schnellsten Fortschritte werden sich vermutlich in Kletterproblemen einstellen, in denen du zwar genügend Kraft für die Einzelzüge hast, dir aber die Ausdauer fehlt. Hier wirst du schon innerhalb von etwa zwei Wochen eine deutliche Verbesserung spüren. Fehlt die Maximalkraft, musst du etwas mehr Zeit investieren. Aber selbst hier startest du nach einer mehrmonatigen Pause nicht bei Null. Dank des Muscle Memory-Effekts passt sich deine Muskulatur schneller wieder an die Belastung an, was die Rückkehr zu alter Form beschleunigt.