Die Bewertung der Schwierigkeit von Bouldern führt immer wieder zu Diskussionen. Was dem einen leicht fällt, findet der andere unmenschlich schwer und ist deshalb fest davon überzeugt, das Boulder ABC nicht Grad XYZ sein kann. Kommt es hart auf hart, können solche Situationen für richtig schlechte Stimmung sorgen. Stellt sich die Frage: Ist eine Zahl (oder eine Farbe) so viel Aufregung wirklich wert?
Wie Bewertungen von Bouldern entstehen
Um die Antwort auf diese Frage zu finden, hilft es, sich erst einmal damit zu beschäftigen, wie Boulder überhaupt zu ihrer Bewertung kommen. (Was hinter den Zahlen steht, erfährst du hier.) Am Fels hat es sich eingebürgert, dass der Erstbegeher einen Bewertungsvorschlag abgibt. Dieser ist nicht unumstößlich. Spätere Kletterer können nach ihrem Durchstieg ebenfalls ihre Meinung äußern und den Vorschlag bestätigen oder nach unten oder oben korrigieren. In der Theorie sollte dieses demokratische System dafür sorgen, dass Boulder mit ähnlicher Bewertung tatsächlich auch eine vergleichbare Schwierigkeit haben.
In der Halle übernehmen die Routenbauer die Rolle des Erstbegehers. Wenn überhaupt, sind es andere Schrauber oder Stammgäste, die Einfluss darauf haben, ob ein Problem später noch einmal neu bewertet wird. Möglicherweise schauen sich alle an einer Umschraubaktion beteiligten Routenbauer sämtliche Boulder an und geben ihre Meinung ab, bevor die ersten Kunden sich daran versuchen dürfen. In allen Fällen bleibt die demokratische Komponente jedoch auf einen kleinen Personenkreis beschränkt. In der Praxis kann das auch am Fels der Fall sein. Ist das Gebiet klein und lockt nur wenige Besucher an, die noch dazu keinen Kontakt mit der lokalen Community pflegen, werden Gradkorrekturen schwierig.
Was man kennt, das kann man
Dieses System hat noch eine weitere offensichtliche Schwäche: Herrscht in einem Gebiet ein bestimmter Stil vor, sagen wir beispielsweise Kletterei an Leisten, werden die dortigen Kletterer darin sehr gut. Das kann die Perspektive verzerren und dazu führen, dass schwere Leistenprobleme eine niedrige Bewertung bekommen. Gleichzeitig wird Besuchern aus anderen Gebieten, in denen der Fels eher Sloper-Kletterei bietet, jedes Problem schwieriger vorkommen, weil es nicht dem entspricht, was man bereits gut kennt.
Boulder wie L’Angle Allain in Fontainebleau sind das perfekte Beispiel für das Frustpotenzial eigentlich einfacher Probleme. Klettert man hier nicht mit präziser Technik, kann sich die Kante trotz ihrer Bewertung von 5c/6a unendlich schwer anfühlen. Beherrscht man die Feinheiten, wird der Boulder fast zum Spaziergang.
Am Plastik kann das ähnlich sein. Verbringt jemand die meiste Zeit in der gleichen Halle, sind die Griffsets und der Stil der Schrauber vertraut. Dadurch fällt es wesentlich einfacher, neue Boulder schnell zu klettern, als es in einer fremden Halle der Fall wäre. Das wiederum führt zu unter Umständen zu Irritationen: Werden neue Griffsets angeschafft oder die Schrauber lockern den Stil etwas auf, fühlt sich eine vertraute Bewertung plötzlich möglicherweise ungewöhnlich fordernd an. Gerade, wenn du erst kurze Zeit boulderst, aber schon einen Leistungsanspruch entwickelt hast, kann das für Ärger sorgen. Schließlich bist du es gewohnt, eine bestimmte Bewertung problemlos zu klettern, hast dabei ein Erfolgserlebnis und wirst nun aber möglicherweise von einem Boulder abgeworfen, der dir keine Schwierigkeiten bereiten sollte. Das zu verdauen, fällt manchmal schwer.
Subjektivität ist nicht nur eine Schwäche der anderen
Den Klettertag solltest du dir davon aber nicht verhageln lassen. Im Grunde könnten zwei Dinge passiert sein: Zum einen ist es denkbar, dass der Routenbauer sich vertan und die Schwierigkeit des Problems tatsächlich unterschätzt hat. Das ist ärgerlich, angesichts der subjektiven Natur von Boulderbewertungen aber unvermeidbar. Zum anderen – und das ist eigentlich immer der Fall – hat der Boulder eine Lücke in deinem Klettervermögen aufgezeigt. Offenbar fehlen dir die notwendigen Fertigkeiten, um das Problem erfolgreich zu lösen. Ist die Lücke groß genug, kann es sogar sein, dass dir ein korrekt bewerteter Boulder schwerer vorkommt, als er objektiv ist. In diesem Fall liegt die Fehleinschätzung auf deiner Seite.
An einem Fakt ändert das alles aber nichts: Frustration bringt dich nicht weiter. Dich über den Schrauber oder die Qualität des Boulders aufzuregen ebensowenig. Besser wirst du nur, wenn du den Ärger schnellstmöglich beiseiteschiebst, um anschließend die Herausforderung annehmen und als Chance anerkennen zu können, ein kompletterer Kletterer zu werden. Meist genügt es schon, sich genau das ins Gedächtnis zu rufen, um die eigene Aufmerksamkeit anschließend wieder auf wichtigere Dinge richten zu können – zum Beispiel auf die Analyse, warum die Züge nicht klappen wollen.
Ein Gedanke zu „Kletterfrust: Warum Klettergrade keine (große) Rolle spielen und den Ärger nicht wert sind“