Die spannendsten und lohnendsten Probleme sind beim Bouldern oft die, die man sich erarbeiten muss. Marschiert man einen Boulder quasi im Vorbeiflug nach oben, kann das zwar auch für Hochstimmung sorgen, mit der erfolgreichen Begehung eines Projekts, in welches man Stunden und manchmal sogar Tage investiert hat, lässt sich das aber nicht vergleichen. Umgekehrt ist es natürlich enorm frustrierend, wenn sich all die Arbeit nicht auszahlt. Ein paar taktische Kniffe können helfen, damit das nicht zu oft der Fall ist.
1. Nach dem ersten folgt der zweite Blick
Zum Projekt wird ein Boulder naturgemäß, wenn er im ersten Versuch nicht geschafft werden konnte. Für dich heißt das: Analysemodus an und schauen, woran du gescheitert bist. Obwohl du dir den Boulder natürlich schon vor dem Einstieg gut angeschaut hast, wirfst du jetzt noch einmal einen genaueren Blick auf Griffe und Tritte und rekapitulierst, warum es nicht für den Durchstieg gereicht hat. War es nur ein Missgeschick wie ein unsauber gesetzter Fuß oder hast du dich beim Lesen der Beta verschätzt?
Während ersteres schon im zweiten Versuch durch erhöhte Konzentration vermieden werden kann, musst du dir bei einer falschen Beta etwas mehr Gedanken machen. Ist die Zugabfolge wirklich sinnvoll? Ließe sich der gescheiterte Zug nicht anders lösen und müssen alle Griffe so belastet werden, wie du es anfangs dachtest? Oder gibt es versteckte Kniffe, die es leichter machen, einen Griff zu halten? Dabei dürfen die Griffe und Tritte durchaus auch einmal befühlt werden. Möglicherweise gibt es Stellen, die viel oder wenig Reibung bieten, vielleicht eine Griffecke, in die sich die Finger gut einsortieren lassen. Bist du dabei auf hilfreiche Informationen gestoßen, kannst du den Boulder noch einmal angehen.
2. Haushalte mit deinen Kräften
Tropfst du auch im zweiten und dritten Versuch an der gleichen Stelle ab und kannst keine merkliche Verbesserung feststellen, wird es Zeit die Strategie zu wechseln. Gerade wenn die Krux nicht am Anfang des Boulders liegt, macht es keinen Sinn mehr, von den Startgriffen loszuklettern. Tatsächlich ist das dann sogar ein Fehler, weil es Kraft kostet, die du besser in die Lösung des Kruxzuges investieren kannst. Wenn möglich starte also direkt an dieser Stelle oder kurz davor in den Boulder und gehe die Schlüsselstelle frisch erholt an. Für ungewohnte Bewegungen müssen wir naturgemäß etwas mehr Kraft einsetzen als für bekannte. Knackst du die Krux einmal, wird es dir danach im Normalfall leichter fallen, sie zu wiederholen – auch wenn du später tatsächlich vom Anfang startest und es auf den Durchstieg anlegst.
Ein Schlüssel zum guten Umgang mit den eigenen Ressourcen sind außerdem ausreichend lange Pausen. Wer Versuch um Versuch herausfeuert und immer wieder scheitert, hat am Ende vielleicht ein gutes Kraftausdauertraining absolviert, die Chancen das Projekt zu knacken gehen aber gegen Null. Je mehr Züge absolviert werden müssen und je schwerer diese sind, desto länger sollten auch die Erholungsphasen sein. Ein paar Minuten Pause sind kein Problem. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass die Griffe atmen können. In der Halle ist das besonders wichtig, weil der Kunststoff sich schnell erwärmt und feucht wird, was den Halt ruiniert. Achte aber darauf, nicht völlig auszukühlen. Dann sinkt die Leistungsfähigkeit wieder.
3. Klettere auch einmal das Ende
Es ist ein gern gemachter Fehler, sich beim Projektieren nur auf die Krux und die Züge davor zu konzentrieren. Läuft es schlecht, knackst du diese, versuchst den Durchstieg und stellst plötzlich fest, dass der Boulder damit längst nicht vorbei ist. Anstatt oben anzukommen, findest du dich einen Augenblick später auf der Matte wieder und darfst von vorn beginnen. Deshalb ist es immer eine gute Idee, alle Teile eines Projekts mindestens einmal geklettert zu haben, bevor man das gesamte Problem in Angriff nimmt. Gerade am Fels ist das wichtig, wo Griffe und vor allem Tritte nicht immer so leicht zu erkennen sind wie in der Halle. Aber auch dort sollte man sich vor Überraschungen schützen. Schließlich hast du drinnen wie draußen wenig Zeit zu suchen und zu überlegen, wenn die Kraft zur Neige geht.
4. Hinterfrage deine Beta
Dass die Beta für einen Boulder nicht in Stein gemeißelt sein sollte, habe ich ja schon unter Punkt 1 erwähnt. Was für den ersten Schritt nach dem gescheiterten Flash stimmt, trifft aber auch für den x-ten späteren Versuch zu. Selbst wenn sich eine Zugfolge möglich anfühlt und scheinbar nur eine Kleinigkeit fehlt, um sie tatsächlich zu klettern, muss sie nicht zwingend die beste Lösung sein. Genauso verhält es sich, wenn du versuchst, die Beta anderer Kletterer zu kopieren. Es kann sich durchaus lohnen, nach ein paar Fehlversuchen noch einmal zu schauen, ob die Griff- und Trittkombination auch andere Bewegungen zulässt, die dir möglicherweise besser liegen. Dass ein Boulder bestimmte Lösungen zwingend vorgibt, ist selten und selbst Routen am oberen Ende der Schwierigkeitsskala erlauben unterschiedliche Herangehensweisen. Bleibt man flexibel, ergibt sich möglicherweise eine Variante, die einen bis dahin unmöglich Zug machbar werden lässt oder einfach ganz ersetzt.
5. Putzen, putzen, putzen
Was du keinesfalls vernachlässigen solltest, sind die Bedingungen, die bei deinen Durchstiegsversuchen herrschen. Wenn du an deinem Leistungslimit klettern willst, spielen äußere Faktoren eine große Rolle. Während wir auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit keinen Einfluss haben, können wir zumindest aber dafür sorgen, dass die Oberfläche der Griffe in gutem Zustand ist. Zuviel Chalk ist genauso Gift für die Reibung wie zu wenig davon. Folglich solltest du dir immer wieder die Zeit nehmen, überschüssiges Magnesia von den Griffen zu schrubben. Das bringt Vorteile beim Halt, zwingt dich, eine kleine Pause einzulegen, und sorgt auch im Kopf für zusätzliche Sicherheit. Zu putzen kann Teil deiner mentalen Vorbereitung sein und dir das Vertrauen geben, auch auf schlechten Griffen den optimalen Grip zu finden.
6. Nutze Mentaltechniken für mehr Angriffsbereitschaft
Apropos Mentales: Ein schweres Projekt fällt nicht, wenn du nicht auch im Kopf dafür bereit bist. Nervosität, Zweifel oder übermäßiger Respekt vor einem Zug können dafür sorgen, dass die Psyche deine körperlichen Fähigkeiten einschränkt. Versuche deshalb, so ruhig und konzentriert wie möglich zu bleiben. Suche dir – sollte das Absprunggelände kritisch sein – einen Spotter, der dir Sicherheit vermittelt, und gehe vor dem Einstieg die Beta durch. Diesen Augenblick kannst du nutzen, um noch einmal tief durchzuatmen und auf Mentaltechniken wie die Visualisierung zurückzugreifen. Dabei stellt man sich den gesamten Boulder oder eine Kletterstelle als Film vor, der aus der Ego-Perspektive vor dem inneren Auge abläuft. Du kletterst den Boulder also im Kopf und versuchst das Erlebnis so real wie möglich zu machen. Stell dir vor, wie du die schlechten Griffe der Krux optimal triffst, wie die Füße sicher auf den winzigen Tritten stehen und dir der Schlüsselzug mühelos gelingt. Danach steigst du in dein Projekt ein.
Visualisierung aktiviert die Region im Hirn, die für die Bewegungssteuerung verantwortlich ist, hilft gleichzeitig, ruhiger zu werden und Selbstvertrauen aufzubauen. Ich persönlich setze diese Technik gern bei Sprüngen ein, bei denen ich allzu oft nur mit angezogener Handbremse unterwegs bin. Die lebhafte Vorstellung, wie ich die Griffe erreiche und halte, hat mich schon mehrfach auch in der Realität noch oben gebracht. Die Visualisierung ist allerdings nur eines von einer ganzen Reihe an Mitteln, um den Kopf in den Angriffsmodus umzuschalten. Einige der meiner Meinung nach effektivsten habe ich in meinem Buch Bouldertraining zusammengefasst. Darin widme ich dem Mentaltraining ein ganzes Kapitel, weil Kraft und Technik beim Klettern längst nicht alles sind und der Kopf gerade in schweren Bouldern einiges zum Erfolg oder Scheitern beiträgt.