Schwierigkeitsgrade sind aus der Boulderwelt kaum wegzudenken. Ob in der Halle oder am Fels. Die Bewertung einer Route ist Quelle für Stolz und Frust, Ausgangspunkt erhitzter Diskussionen und manchmal auch die wichtigste Motivation, um einem Problem überhaupt eine Chance zu geben. Aber wo kommt das eigentlich her? Wer ist auf die Idee gekommen, einer Linie am Fels eine Nummer zu verpassen. Und warum? Es wird mal wieder Zeit für ein kleines Bisschen Klettergeschichte.
Es ist gar nicht so einfach, Antworten auf diese Fragen zu finden. Obwohl ich mich stundenlang durch die mir verfügbaren Quellen gegraben habe, konnte ich nicht jedes Detail klären. Besonders die in Europa gebräuchliche Fontainebleau-Skala hat mir das Leben schwer gemacht. Deren Anfänge liegen so weit zurück, dass sie langsam wieder in Vergessenheit geraten. Ein paar interessante Fakten konnte ich trotzdem ausgraben. Aber bevor wir dazu kommen, müssen wir erst mal klären, welche Bewertungssysteme im Bouldern heute gebräuchlich sind.
Wenn du deine ersten Kletterzüge in einer Halle gemacht hast und das erste Mal eine andere Halle besuchst, wirst du vielleicht überrascht sein, dass dort ein paar Sachen anders sind. Andere Griffe, anderer Schraubstil und vor allem oft auch ein anderes Bewertungssystem. Viele Boulderhallen verwenden selbst entwickelte Schwierigkeitsskalen, die sich nach Farben und Zahlen richten. Da liegt es ganz bei der Halle zu entscheiden, ob zum Beispiel Gelb für besonders leicht oder besonders schwer steht. Beim Gang in eine andere Halle musst du dich dann häufig umgewöhnen.
Bewertungssysteme so vielfältig wie der Fels
Am Fels war es bis vor ein paar Jahren ähnlich. Weltweit gibt es zig verschiedene mehr oder weniger bekannte Skalen. Oft sind diese nur in einzelnen Ländern verbreitet, manchmal sogar nur in einem Gebiet bekannt. Ein Beispiel dafür ist die B-Skala im französischen Sandsteingebiet Annot, die eher mit der V-Skala aus den USA als mit dem bleauschen System vergleichbar ist, obwohl letzteres nur ein paar Hundert Kilometer weiter nördlich entstanden ist. Aber: In den letzten Jahrzehnten haben viele dieser Systeme an Bedeutung verloren. Stattdessen haben sich zwei Skalen durchgesetzt. Die V-Skala, die vor allem im englischsprachigen Raum genutzt wird und die Fontainebleau-Skala, die in Europa, Teilen Asiens und Südafrika das Ruder übernommen hat.
Gemeinsam ist beiden Systemen, dass sie nach oben offen sind. Das heißt, der aktuell schwierigste Grad kann irgendwann durch einen noch schwierigeren abgelöst werden. Das wirkt erst mal selbstverständlich, weil erfahrungsgemäß mit den Jahren immer härtere Probleme erschlossen werden. Trotzdem gab es immer wieder Ansätze mit geschlossenen Systemen. John Gill, der Urvater des Boulderns in den USA, entwickelte zum Beispiel ein System mit nur drei Graden. B1, 2 und 3. Die schwerste Bewertung gab es dabei nur für Boulder, die erst einmal geklettert werden konnten. Sobald es eine zweite Begehung gab, folgte die Abwertung auf B2. Wurde der Boulder häufiger geklettert, galt er als B1. Echte Vergleichbarkeit ließ sich so nicht erreichen. Zwischen einer B2 von 1960 und einer B2 von 1980 können Welten liegen.
Die Fb und V-Skala entwickeln sich stattdessen progressiv. Eine V1 ist leichter als eine V2, die wiederum leichter ist als eine V3. Der aktuell höchste Grad ist V17. Das entspricht auf der Bleau-Skala einer 9A. A, weil hier nicht nur mit Zahlen gearbeitet wird. In Bleau werden Grade noch einmal in A, B und C unterteilt. Eine 6A ist leichter als eine 6B und die leichter als eine 6C. Das Ganze kann sogar noch weiter ausdifferenziert werden. Bei Bouldern ab dem 6. Grad wird gelegentlich ein Plus angehangen. Eine 6C+ ist etwas schwerer als eine 6C, aber noch nicht ganz 7A.
Wer denkt sich sowas aus?
Bei der V-Scale lässt sich das ziemlich leicht beantworten. Deren Vater ist der Amerikaner John Sherman, der sich direkt in der Skala verewigt hat. Das V vor der Zahl hat keine besondere Bedeutung, sondern leitet sich von seinem Spitznamen „Verm“ ab.
Sherman hat das Bouldern in den 1980er und 90er Jahren in den USA geprägt und hat allein in den Hueco Tanks mehr als 400 Erstbegehungen gesammelt. Für deren Bewertung erschien ihm das im Seilklettern etablierte Yosemite Decimal System nicht geeignet. Seine Lösung dafür war die Entwicklung der V-Skala, die sich nur ein paar Jahre später auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent und darüber hinaus verbreitet hatte.
Bei der Fontainebleau-Skala sieht es etwas komplizierter aus. Man findet verschiedenste Informationen zu ihren Ursprüngen, wobei einige nicht stimmen können. So wird teilweise behauptet, das Bleau-System hab sich erst in den 1960er Jahren etabliert. Dagegen spricht, dass die erste 6A der Welt (La Marie Rose) schon 1946 von Rene Ferlet geklettert wurde. Die erste 5C (damals noch 5+) ging 1934 auf das Konto von Pierre Allain. Die älteste aufgezeichnete Linie ist „La Fissure Wehrlin“, eine 3 von 1908. Was ich nicht herausfinden konnte, ist, ob La Fissure schon damals diese Bewertung bekommen hat oder ob ihr dieser Grad nachträglich verpasst wurde. Meiner Meinung nach spricht aber viel für das erste Szenario. Warum?
Die Alpen als Inspiration
Weil die ersten Bleausards Alpinisten waren und die Alpinszene 1894 eine kleine Revolution erlebt hatte. Damals entwickelte Fritz Benesch zum ersten Mal ein Schwierigkeitssystem mit Gradunterteilung, welches sich danach rasant im Alpenraum verbreitete. Diese Idee aus den Alpen an die heimischen Felsen mitzunehmen, ist meiner Meinung nach naheliegend. Sogar die Bewertung würde dazu passen. Denn im damals üblichen siebenstufigen System galt der 7. Grad als leichterster, während der erste der schwerste war. Ein relativ blanker Kamin wie La Fissure Wehrlin dürfte für damalige Verhältnisse schon eine ordentliche Herausforderung gewesen sein.
1908 zeichnete sich aber auch schon ab, dass dieses System in Zukunft keinen Bestand mehr haben würde. Im Gebirge wurden immer schwierigere Touren begangen, die das Beneschs geschlossenes System sprengten. Um dem zu begegnen, bekamen diese anfangs die Bewertung 0, wenn sie schwerer als die schwersten von Benesch bewerteten Routen waren. Aber auch das ließ sich nicht ewig durchhalten, weil die zunehmende Schwierigkeit der Neutouren nicht mehr abgebildet werden konnte. Es ist möglich, dass sich die Bleausards dieses Problems bereits bewusst waren und deshalb ihr System direkt nach oben offen anlegten. Sicher ist, dass ein paar Jahre später nach dem heute bekannten System bewertet wurde.
Eine Idee, um Leben zu retten
Und warum hat man Kletterrouten am Fels bewertet? Hauptgrund dürfte das Thema Sicherheit gewesen sein. Bevor Fritz Benesch sein erstes Grad-System vorstellte, wurden wenig aussagekräftige Begriff wie „leicht“, „schwer“ oder „schwierig“ verwendet. Ob „schwer“ oder „schwieriger“ die anspruchsvollere Tour war, ließ sich daraus nicht ableiten. Das Benesch-System war leicht zu interpretieren und hat den Bergsteigern klarer gemacht, worauf sie sich bei einem Durchstiegsversuch einlassen. Das war wichtig. Mehr noch als heute war Bergsteigen damals riskant und wurde von vielen Alpinisten mit dem Leben bezahlt.
Aber auch wenn wir uns beim Bouldern normalerweise nicht in Todesgefahr begeben, ist dieser Gedanke auch in den heutigen Graden vorhanden. Selbst wenn die Gefährlichkeit einer Route für die V- und Fb-Skala keine Rolle spielt, gibt uns die Bewertung eine Idee davon, was uns erwartet. Auch damit man abschätzen kann, ob man dem gewachsen ist oder ob eine Linie am persönlichen Limit kratzt oder weit darüber hinaus geht. Wer 7B bouldert und seine Augen auf einen 7C-Highball legt, kann sich so ausrechnen, dass ein Flash sehr unwahrscheinlich ist und ein paar mehr Matten eine gute Idee sein dürften.