Schwierigkeitsgrade sind für Kletterer eines der wichtigsten Instrumente, um herauszufinden, wo sie stehen. Den nächsthöheren Grad zu knacken, ist deshalb ein Wunsch, den eigentlich jeder leistungsorientierte Vertikalsportler verfolgt. Auch wenn das verständlich ist, birgt diese Einstellung auch ein Risiko. Es klingt paradox, aber wer immer nur nominell schwer klettern will, läuft Gefahr als Kletterer stehen zu bleiben und die eigenen Ziele sogar trotz intensiven Trainings zu verfehlen.
Bouldern: Sport mit Suchtfaktor
Das menschliche Wesen ist in vielen Aspekten komplex und manchmal doch ganz einfach gestrickt: Zum Beispiel genießen wir alle das Gefühl des Erfolges, die Bestätigung, dass sich harte Arbeit ausgezahlt hat und wir unser Ziel erreicht haben. Solche Erfahrungen sprechen das Belohnungszentrum im Oberstübchen an und sorgen für einen Hormonschub, der mit einem enormen Glückszustand einhergeht. Jeder Boulderer, der schon einmal ein Projekt geknackt hat, kennt dieses Gefühl. Erst kommt die Euphorie, dann die wohlige Zufriedenheit, mit der man sich nach der Session auf das Crashpad oder die Couch sinken und das Geschehene Revue passieren lassen kann.
Dieses Gefühl ist sicher einer der Gründe, warum viele das Bouldern so genießen. Hier kann man sich kleine und große Erfolgserlebnisse holen. Sei es, weil man eine knifflige Sequenz entschlüsselt hat, endlich einen schweren Zug oder eben das mehrtägige Projekt klettern konnte. Steht dann noch ein bis dahin nicht erreichter Grad hinter dem Namen (oder auf dem Startzettel) des Boulders, kann man sich kaum mehr wünschen.
Wie Erfolgswünsche falsche Gewohnheiten verstärken
Diese besonders große positive Bestärkung kann allerdings zum Problem werden, wenn man die kleinen Erfolge immer weniger zu schätzen weiß und sich stattdessen auf eine Jagd nach immer höheren Schwierigkeitsgraden macht. Die Verlockung ist dann groß, sich vor allem auf die Dinge zu konzentrieren, die bereits sehr gut klappen.
Ich kenne zum Beispiel viele Männer, die dank ihres sportlichen Hintergrunds schon zu Beginn ihrer Kletterkarriere im Dach vergleichsweise schwer klettern konnten. Die Griffe sind dort selbst in Bouldern im 6. Grad noch recht groß. Häufiger werden weite Zügen abgefordert, bei denen Körperspannung wichtiger als Fingerkraft ist. Selbst fitte Frauen müssen hier mehr investieren. Ihre oftmals geringere Reichweite macht es ihnen schwerer, Griffe zu erreichen, an die ihre männlichen Kollegen noch locker herankommen. Und ist der Griff doch einmal in der Hand, brauchen sie eine gute Portion mehr Körperspannung, um nicht trotzdem abzufallen, weil der Körper stärker gestreckt ist. Das Ergebnis: Besagte Herren sind häufiger im Dach anzutreffen, während viele Frauen allzu steile Boulder eher meiden.
Kommt dann noch der Anspruch hinzu, immer möglichst schwer bewertete Boulder zu knacken, kann das problematisch werden. Denn durch die zusätzliche Fixierung auf die Schwierigkeit wird die ohnehin vorhandene Tendenz weiter verstärkt, vor allem das zu klettern, was leicht fällt. Sei es Platte oder Überhang. Am Ende entwickelt sich der jeweilige Kletterer zum Spezialisten. Das klingt erst einmal gut, tatsächlich bedeutet es aber, dass man nur eine Sache wirklich beherrscht, während man in anderen Bereichen wenig bis keine Erfahrung hat. Im Englischen werden solche Menschen passenderweise als „One Trick Pony“ bezeichnet. Für Kletterer ist das definitiv ein Nachteil – erst recht, wenn sie leistungsorientiert an der Wand unterwegs sind.
Was als Erfolg gilt, ist auch Einstellungsfrage
In diesem Fall wird es mit wachsender Spezialisierung immer wahrscheinlicher, dass man sich im seltener an Probleme heranwagt, in denen die eigenen Stärken wenig Vorteile bringen. Und wenn es dann doch einmal so ist, wird es zur Geduldsprobe, weil sich die Boulder trotz einer möglicherweise leichten Bewertung schwer bis unmöglich anfühlen. Wer sich dann nicht bewusst ist, dass dies vor allem an Lücken im eigenen Kletterrepertoire liegt, wird mit reichlich Frust zu kämpfen haben, was wiederum die Motivation weiter sinken lässt, vielseitig zu klettern. Daraus kann sich ein regelrechter Teufelskreis entwickeln, an dessen Ende im schlimmsten Fall der Verlust der Freude am Klettern steht. Weil es langweilig wird, das immer Gleiche zu tun und gleichzeitig die Alternativen mit hohem Frustpotenzial verbunden sind.
So weit sollte man es vernünftigerweise nicht kommen lassen. Mein Tipp ist es deshalb, sich schon frühzeitig von der Jagd nach möglichst hohen Graden zu verabschieden und zu realisieren, dass auch kleine Schritte – wie ein nach zig Versuchen geschaffter Zug in einem Anti-Style-Boulder – Erfolge sind, über die es sich zu freuen lohnt. Schließlich hat man auf dem Weg dorthin vermutlich wirklich etwas gelernt.
Positive Konzentration auf Schwächen, statt auf Stärken
Noch besser ist es, wenn man gerade die Herausforderung sucht, und deshalb sogar „leichte“ Boulder bevorzugt, deren Durchstieg einem nicht einfach zufliegt. Das ist natürlich mit einem gewissen Frustpotenzial verbunden. Hat man gelernt, den Durchstieg nicht zum Maß aller Dinge zu machen, warten aber auch auf diesem Weg reichlich Erfolgserlebnisse.
Wer sich nicht ständig ausschließlich mit den eigenen Schwächen beschäftigen möchte, kann sich aber auch andere Ziele setzen. Eines wäre beispielsweise, alle Boulder einer Schwierigkeit in der eigenen Halle zu schaffen – und das im schwerstmöglichen Grad, in dem man regelmäßig Boulder knackt. Nimmt man das ernst, ist man automatisch gezwungen, auch Probleme anzufassen, die man ansonsten lieber links liegen lassen würde.
Das Positive: Das Entwicklungspotenzial bei Dingen, die man nicht sonderlich gut beherrscht, ist groß. Entsprechend schnell fallen auch die Fortschritte aus, wenn man konsequent dranbleibt. Das wiederum ist enorm motivierend und sorgt am Ende dafür, dass man sogar mehr Spaß am Klettern hat als zuvor. Grundvoraussetzung ist lediglich, den inneren Schweinehund zu überwinden und Klettergrade nicht zur obersten Priorität zu machen.