Indoor-Bouldern hat in den letzten Jahren eine deutliche Wandlung erfahren. Imitierten die Probleme an künstlichen Wänden in den ersten Jahren noch das Klettern am Fels, hat sich mittlerweile beinahe so etwas wie eine eigene Sportart entwickelt. Ursache ist der zunehmende Einfluss des Parkour, der von den großen Wettkämpfen seinen Weg in die kommerziellen Hallen gefunden hat. Wer heute stark sein will, muss sich längst nicht mehr nur gut festhalten können.
Natürlich spielt Kraft auch bei Bouldern im Parkour-Stil eine Rolle. Wenn die Griffe so schlecht sind, dass man sie selbst bei statischen Bewegungen kaum halten kann, hat man logischerweise keine Chance, das Ganze mit Schwung zu schaffen. Allerdings ist das nur äußerst selten der Fall. Vor allem leichtere dynamische Probleme werden mit großen Griffen geschraubt, damit der physische Anspruch nicht zu hoch wird. Weit wichtiger ist deshalb Koordination, Timing und in einem gewissen Maße Präzision. In manchen Fällen spielen die Finger gar keine Rolle mehr – zum Beispiel, wenn der Weg zwischen Start und Top im Laufschritt über Volumen zurückgelegt werden muss.
Bei manchen Boulderern der alten Schule sorgt das zuweilen für Kopfschütteln und die Frage, was das denn noch mit Klettern zu tun habe. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass draußen ein diagonaler Doppeldyno oft schon das höchste der dynamischen Gefühle ist. Und zugegebenermaßen habe ich mich in den letzten Jahren ebenfalls schwer mit den immer präsenteren Läufern und Sprüngen getan. Aber: Was man nicht macht, kann man nicht meistern. Deshalb geht es mittlerweile immer wieder an koordinative Probleme, die mich eher mental als körperlich fordern. Weil ich trotzdem kein Experte für das Thema bin, habe ich mir kürzlich Unterstützung von Chris geholt, einem befreundeten Parkour-Läufer und Boulderer in Personalunion. Dieser hat mich nicht nur gecoacht (siehe Video), sondern mir auch einige Tipps mit auf den Weg gegeben, die auch dir helfen können, wenn du dich an parkourartige Boulderprobleme heranwagen willst.
Alles Kopfsache
Beim Klettern ist der Kopf der stärkste Muskel – das wusste schon Wolfgang Güllich. Wer zögert und nicht sicher ist, einen Zug lösen zu können, wird diesen bestenfalls halbherzig angehen und so die Wahrscheinlichkeit erhöhen, tatsächlich zu scheitern. Bei Parkour-Bouldern ist das nicht anders. Es braucht eine gewisse Lockerheit und Selbstsicherheit, wenn man Anläufer und Sprünge absolvieren will. Wer schon beim Auslösen der Bewegung nur daran denkt, wie schmerzhaft es wäre, jetzt einen Tritt zu verfehlen oder vom Griff abzurutschen, zeigt niemals vollen Einsatz. Für mich ist beispielsweise typisch, bei Anläufern zögerlich loszulaufen oder den Schwung abzubauen, sobald der Fuß den ersten Tritt berührt, obwohl der Griff noch in weiter Ferne ist.
Natürlich lässt sich das nicht ohne Weiteres abstellen, weil es jeder Intuition widerspricht, mit Vollgas auf eine Wand zuzulaufen. Die Hemmungen lassen sich aber durch Wiederholungen abbauen. Je häufiger ich anlaufe, ohne in die Wand einzurasten, desto weniger wehrt sich mein Kopf gegen die Aufgabe. Will ich dann wirklich aufs Ganze gehen, nutze ich die Technik der Visualisierung, um mein Selbstvertrauen weiter zu stärken.
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Obwohl es hier klappt, wirkt der Anlauf noch etwas zögerlich. Vollends sicher bin ich mir wohl noch nicht.
Konzentration nach unten
Natürlich wächst das Vertrauen in das eigene Können nur, wenn sich zwischendurch keine meiner Horrorvisionen bewahrheitet. Typische Befürchtung: Ich verfehle im Lauf einen Tritt und rutsche unsanft die Wand entlang. Weil dieses Risiko tatsächlich besteht, war Chris Tipp, die Aufmerksamkeit anfangs immer auf die Füße zu legen. Beim Anlaufen schaue ich zuerst, ob sie tatsächlich dort landen, wo sie es sollen. Zum Griff geht der Blick erst, wenn das offensichtlich funktioniert.
Am Anfang braucht diese bewusste Fußarbeit Zeit, weshalb die Hand den Griff in den ersten Versuchen normalerweise verfehlt. Mit der Zeit schleifen sich die Bewegungen aber ein und ich muss meine Aufmerksamkeit immer weniger auf das lenken, was unter mir passiert. Der einsetzende Automatismus erlaubt es dann, auch mal nach dem Griff zu schauen.
Vom Einfachen zum Schwierigen
Komplexe koordinative Bewegungen zu knacken, ist offensichtlich anspruchsvoll. Deshalb ist es vernünftig, sie in machbare Einzelteile herunterzubrechen. Wer auf den Mount Everest will, übt besser auch erst mal an 2000ern in den Alpen. Im Video ist das gut demonstriert. Der Parkour-Teil unseres Beispielboulders besteht aus einem Anläufer zum Startgriff, dann einem statischen Boulderzug und schließlich einem Seitwärtssprung. Zu Beginn kümmere ich mich um den Anläufer und arbeitete dann am Seitwärtsdyno, bevor ich das Problem tatsächlich zusammensetze. So stelle ich sicher, mich immer optimal auf eine Bewegung konzentrieren zu können.
Natürlich funktioniert das auch, wenn der Anläufer direkt in den Sprung übergeleitet werden müsste. Ich könnte dann erst einmal das Anlaufen üben und erst versuchen, den aufgebauten Schwung in den Sprung mitzunehmen, wenn ersteres bereits gut klappt. Oder allgemeiner gesagt: Ich perfektioniere einen Bewegungsteil nach dem anderen, anstatt alles gemeinsam zu versuchen und damit meinen Kopf zu überfordern.
Untrainiert wird es gefährlich
Klar muss auch sein: So wie klettern an sich eine ungewohnte Belastung ist, an die man sich erst einmal gewöhnen muss, braucht der Körper auch bei der dynamischen Variante Zeit. Das ist gerade am Anfang wichtig, weil unser Hirn erst einmal lernen muss, unsere Muskeln so zu koordinieren, dass die Gelenke auch bei dieser Beanspruchung geschützt werden. Gleichzeitig muss sich die Muskulatur an die neue Anforderung anpassen. Heißt: Wenn du es nicht gewohnt bist, Sprünge und starke Stöße abzufangen, solltest du Parkour-Probleme anfangs nicht belagern, bis nichts mehr geht. Andernfalls kann es zu plötzlichen Verletzungen oder Überlastungserscheinungen kommen – ganz ohne, dass du tatsächlich einen Fehltritt machst.
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Für Chris sind koordinative Boulder kein großes Problem. Trotzdem hält er es für wichtig, den Respekt zu wahren und konzentriert zu bleiben.
Respekt schadet nicht
Gesunder Respekt ist also angebracht. Gerade, wenn dein Kopf dir bei parkourartigen Bouldern nicht im Weg steht, du aber noch wenig Erfahrung auf dem Gebiet hast. Auch Chris überlegt sich selbst nach Jahren des Parkourtrainings beim Bouldern wie beim Parkour noch genau, ob er sich einen Zug oder eine Technik zutraut. Die Fähigkeit zur korrekten Selbsteinschätzung entwickelt man allerdings erst mit der Erfahrung. Deshalb macht es gerade am Anfang Sinn, eher etwas tiefer zu stapeln. Denn nur weil bestimmte Bewegungen leicht aussehen, wenn sie korrekt gemacht werden, heißt das nicht, dass jeder sie einfach mal so machen könnte. Wer rennen will, bevor er laufen kann, lernt das auf die harte Tour.
Übung macht den Meister
Das Positive: Egal, ob Naturtalent oder koordinativer Härteifall – die notwendigen Fähigkeiten für Parkour-Boulder lassen sich genauso gut trainieren wie alle anderen Skills auch. Wer dran bleibt, wird sich verbessern. Das merke ich selbst immer wieder. Waren Anläufer mit einem Schritt am Anfang schon eine kleine Herausforderung und Querläufer ein Albtraum, gelingen erstere mittlerweile oft auf eins und letztere sogar mit Zwischenschritten. Dabei war meine Basis eher schlecht, weil ich von Natur aus weder mit sonderlich guter Koordination, Explosivität oder einem starken Kopf gesegnet bin. Parkour-Boulder sind also genau das Gegenteil von dem, was mir liegt. Trotzdem habe ich mittlerweile sogar meinen Spaß daran. Nach der anfänglichen Überwindung kam der mit jedem kleinen Erfolg ganz von allein.
Bonus-Tipp: Putzen hilft
In gut besuchten Hallen und bei viel begangenen Bouldern kann es nicht schaden, immer mal wieder drüber zu putzen. Gerade wenn es über Volumen geht, bringt es einiges an zusätzlicher Sicherheit, wenn deren Oberfläche frei von Chalk und Gummi ist. So finden die Füße beim Durchlaufen sicheren Halt. Das schafft auch Sicherheit im ohnehin schon strapazierten Kopf. Eine Griffbürste am Chalkbag zu haben, ist also in jedem Fall eine gute Idee. Aber das ist ohnehin Teil der essenziellen Ausrüstung beim Bouldern.