Irgendwann trifft es uns alle: Man ist vom Klettervirus infiziert, kämpft sich über Monate beinahe jede Woche immer schwerere Routen nach oben, jagt quasi von Erfolg zu Erfolg – und rennt plötzlich gegen eine unsichtbare Mauer. Obwohl man vielleicht sogar mehr Zeit an der Wand verbringt und sich immer wieder herausfordert, scheint man fast auf der Stelle zu treten. Jeder Erfolg muss härter erarbeitet werden und lässt länger auf sich warten. Einfach nur zu klettern genügt offenbar nicht mehr. Schließlich sorgt der Wunsch nach weiteren persönlichen Bestleistungen dafür, dass man sich nach Trainingsplänen fürs Bouldern umschaut. Was empfehlen die Trainer, was machen Stars wie Jan Hojer oder Adam Ondra? Zu finden gibt es einiges, aber: Ist es überhaupt sinnvoll, nach einem Standard- oder Profiplan zu trainieren?
Kraft, Kraft, Kraft!
Grundsätzlich ist es empfehlenswert, sich mit Trainingsmethoden fürs Klettern auseinanderzusetzen, wenn du in diesem Sport dauerhaft vorankommen willst. Schließlich ist das Steigerungspotenzial, dass das einfache Vor-sich-hin-bouldern bietet, irgendwann ausgeschöpft. Willst du dich dann weiter verbessern, brauchst du das Wissen um Übungen und Trainingsprinzipien, die du in deinen Plan integrieren kannst.
Es gibt jedoch ein großes Aber: Viele Trainingspläne, die man findet, zielen einzig und allein auf den Aufbau von Kraft ab. In den Artikeln dreht es sich um Protokolle fürs Griffbrett oder Campusboard, die einen stahlharten Griff verschaffen sollen. Das ist grundsätzlich erst einmal nicht verkehrt. Wenn es einen Faktor gibt, der mit zunehmender Schwierigkeit bedeutender wird, dann ist es die Fingerkraft. Ohne starke Finger schwer zu klettern, ist quasi unmöglich. Das heißt aber nicht, dass es unbedingt deine Fingerkraft sein muss, die dich als Boulderer davon abhält, voranzukommen. Weitere Faktoren wie die Technik und die mentale Konstitution tragen ähnlich viel bei.
Drei Wege zu scheitern
Das Problem lässt sich leicht illustrieren: Du musst dir nur drei verschiedene Boulderer vorstellen, die das gleiche Problem klettern wollen. Die Schwierigkeit des Boulders dreht sich um schlechte Tritte, die besonders den letzten Zug spannend machen. Hier muss man auf einem steilen Volumen stehend von einem Sloper zu einem weit entfernten sloprigen Endgriff ziehen.
Kletterer A sieht darin kein großes Problem. Er absolviert den Start schwungvoll, verliert auf dem Weg zum letzten Zug aber gleich zweimal die Füße. Dann geht es mit Nachdruck auf das Volumen und dynamisch zum Top. Leider verabschiedet sich dabei der Fuß ein weiteres Mal und sorgt dafür, dass Kletterer A auf der Matte landet, bevor die Finger überhaupt am Top vorbeistreicheln.
Kletterer B geht nicht ganz so gedankenlos in das Problem. Weil er nicht riskieren will, von den Tritten abzurutschen, wird jeder Zug kontrolliert ausgeführt. Vor dem Endzug wird dem noch einmal besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sich am vorletzten Sloper haltend, sucht B auf dem Volumen nach der optimalen Fußposition, will Richtung Top greifen, sortiert die Füße noch einmal, holt Schwung, stoppt und atmet hörbar durch, holt erneut Schwung, stoppt, setzt ein drittes Mal an – und lässt schließlich los. Die Unterarme wollen nicht mehr.
Kletterer C geht zuversichtlich an das Problem. Er setzt die Füße sicher, verschiebt den Körperschwerpunkt gekonnt und nutzt Schwung wohl dosiert, wann immer es von Vorteil ist. Bis zum Zug an den Endgriff verliert er keinen der Tritte und vermittelt den Eindruck, den Boulder mit Leichtigkeit schaffen zu können. Nun steht der Fuß auf dem Volumen, mit einer Ausholbewegung wird der letzte Zug eingeleitet, die Hand geht zielsicher zum Top, trifft – und rutscht beinahe ungebremst ab. Auch dieser Versuch endet auf der Matte.
Mehr Fingerstrom als Antwort für alle?
Geht es nach den Trainingsempfehlungen aus dem Netz, müssen alle drei nur ihre Fingerkraft trainieren, um das Problem schaffen zu können. Tatsächlich ist aber nur Kletterer C an einem Kraftdefizit gescheitert. Kletterer A hat schließlich genug Kraft, zum letzten Zug zu kommen, und vorher mehrfach nur an den Armen zu hängen. Was ihn aufgehalten hat, ist seine unsaubere Bewegungsausführung. Mehr Präzision und besserer Schwungeinsatz würden einen gewaltigen Unterschied machen. Sprich: Techniktraining.
Kletterer B steht in diesem Punkt besser da, kann aber ebenfalls kein Kraftdefizit geltend machen. Schließlich hatte er Zeit, die Füße mehrmals neu zu setzen und den Endzug drei Mal einzuleiten. Was nicht mitspielen wollte, ist der Kopf. Hier sind mentale Techniken gefragt, die es ihm erlauben, sein ganzes Potenzial auszuschöpfen.
Kletterer C hat hingegen sich weder Bewegungsfehler erlaubt noch gezögert, also keine Energie verschwendet. Dass es bei ihm trotzdem nicht gereicht hat, könnte ein Indiz für mangelnde Kontaktkraft sein. Schließlich hat er den Endgriff erreicht, aber nicht schnell genug Druck aufbauen können, um ihn zu halten. Das ließe sich beim Training am Campusboard beheben. Für ihn wäre das Fingerkrafttraining also sinnvoll.
Verschiedene Probleme, verschiedene Lösungen
Diese Beispiele zeigen ganz klar ein Problem vorgefertigter Trainingspläne aus dem Netz oder aus anderen Quellen. Wer pauschal sagt: „Mach diese oder jene Übung am Campusboard oder Griffbrett und du wirst schwerer klettern“, verkennt die Individualität jedes Sportlers und die Komplexität des Kletterns. Zwar wäre es sogar möglich, dass auch A und B kurzzeitig vom Fingertraining profitieren und ihre Schwachstellen durch mehr Kraft zumindest in diesem einen Boulder ausgleichen können, mittelfristig werden diese Schwächen ihnen aber immer wieder auf die Füße fallen. Dann eben in Bouldern, die einen oder zwei Grade schwerer sind.
Trainingspläne müssen deshalb individuell gestaltet und auf den jeweiligen Sportler zugeschnitten sein. Außerdem ist es das Ziel sein, die jeweils größte Schwachstelle zu eliminieren – zumindest, wenn nicht auf einen konkreten Boulder hintrainiert wird. Erst dann kann das Training seine volle Wirkung entfalten, sodass die aufgewendete Zeit und Energie gut investiert ist.
Natürlich ist es etwas schwieriger, einen solchen Plan zu erstellen. Wer nicht das Glück hat, jemanden zu kennen, der weiß, worauf es ankommt, braucht einen analytischen Blick auf die eigene Kletterleistung. Immer, wenn du das Gefühl hast, zu wenig Kraft zu haben, musst du dir ein paar kritische Fragen stellen und diese ehrlich beantworten. Sind deine Bewegungen effizient? Holst du das Maximum aus deinen Füßen heraus? Bist du wirklich bereit, bei einem schweren Zug alles zu geben? Als Hilfe, deinen Schwächen auf den Grund zu gehen, kann dir dieser Selbsttest dienen.
Außerdem möchte ich an dieser Stelle auf mein Buch Bouldertraining hinweisen, in dem ich dir weitere Wege zur Selbstanalyse aufzeige, die Grundlagen der Trainingsplanung erkläre und passende Übungen vorstelle. Natürlich braucht es dafür etwas Einarbeitungszeit und den Willen, sich mit der Theorie zu beschäftigen. Am Ende steht aber ein Plan, der nicht alle denkbaren Probleme beim Klettern mit einem Mehr an Kraft lösen will.