Es gibt ein paar Regeln, die beim Training immer gelten – egal, um welchen Skill und welchen Sport es sich dreht. Einerseits: Regelmäßigkeit ist Trumpf und andererseits: Use it or lose it. Fähigkeiten, die man seinem Körper nicht abverlangt, gehen mit der Zeit verloren. Und um sie überhaupt aufzubauen, muss man sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten wenigstens alle paar Tage darin üben. Simpel, oder? Blöd nur, wenn der Skill zwar wichtig, das Training dafür aber langweilig oder unangenehm ist. Dann kann es mangels Motivation schwierig sein, diesen Grundprinzipien gerecht zu werden. Selbst hochmotivierte und “leidensfähige” Sportler, die bereit sind, sich für ihre Ziele zu quälen, kennen dieses Problem. Vielen von ihnen hilft allerdings eine einfache Methode, leichter ausreichend Motivation für das Training zu finden und gleichzeitig die notwendige Leidensfähigkeit zu reduzieren.
Was es braucht, um in etwas besser zu werden
Es gibt eine weit verbreitete Vorstellung, dass man beim Sport All In gehen muss, um etwas zu erreichen. Nur, wer beim Training ständig an seine Leistungsgrenzen geht, verbessert sich. No pain, no gain. So häufig man das hört und liest, von der Wahrheit ist es weit entfernt. Denn ständige Grenzgänge im Training sind vor allem mit einem hohen Risiko verbunden, während die Vorteile für den Leistungszuwachs so marginal sind, dass die nächste Verletzungspause sie locker auffrisst.
Mit einem erfolgreichen, nachhaltigen Trainingsansatz hat das also wenig zu tun. Der kann tatsächlich komplett gegensätzlich aussehen: Schon kleine Veränderungen an der Trainingsroutine können unserem Körper einen ausreichenden Reiz liefern und die gewünschten Anpassungen hervorrufen. Dieser Fakt dürfte diejenigen freuen, die trotz ihrer Ambitionen noch Spaß am Sport haben wollen, ohne permanente Furcht, zu wenig Gas gegeben zu haben. Das Gefühl, ständig noch mehr machen zu müssen, ist auf Dauer ein echter Motivationskiller. Erst recht, wenn es um eine Sache geht, auf die man schon grundsätzlich wenig Lust hat. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich früher nach einer Bouldersession festgestellt habe, dass keine Zeit mehr für das bitter nötige, umfangreiche Stretching bleibt. Anstatt dann zumindest etwas zu machen, habe ich es gleich komplett gelassen. Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten.
Wie viel ist genug?
Aber was heißt eigentlich kleine Veränderung? Und wie viel oder wenig genügt? Das ist etwas, was ich selbst erst über die Jahre herausfinden musste und was mich immer wieder überrascht hat. Als ich zum Beispiel damit angefangen habe, mich mit Fingertraining auseinanderzusetzen, bin ich über die einschlägigen Apps namhafter Griffbretthersteller gestolpert und war erschreckt, wie lange und intensiv ich mit den vorgefertigten Programmen meine Finger quälen sollte. Bis zu einstündige Einheiten, in denen ich ausschließlich meine Unterarme trainiere, kamen mir in doppeltem Sinne extrem vor: extrem anspruchsvoll und extrem unmotivierend. Wer hat Lust, sich über eine Stunde an ein Griffbrett zu hängen und schmerzende Finger und gepumpte Unterarme zu ertragen?
Mit dieser Aussicht hätte ich das Thema wohl ad acta gelegt. Zum Glück bin ich bei meinen Recherchen aber auch auf Dr. Eva Lopez-Rivera gestoßen. Lopez-Rivera hat in den letzten Jahren einen Teil ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der Suche nach der besten Methode verbracht, am Hangboard Fingerkraft aufzubauen.
Ihre Ergebnisse zeigen einmal mehr, dass Quantität beim Training nicht mit Qualität gleichzusetzen ist. Entsprechend stark unterscheidet sich ihr Ansatz von den vorgenannten Apps: Die von ihr vorgeschlagenen Einheiten sind kurz, umfassen nicht mehr als 5 Sätze und sollten in einer halben Stunde erledigt sein. Auf dieser Basis habe ich mir ein eigenes Training aufgebaut, das zu mir passt und regelmäßig noch kürzer ausfällt. Eine Übung, drei Sätze – das war’s. Mit vorheriger Erwärmung brauche ich für mein aktuelles Fingertraining nicht länger als 15 bis 20 Minuten. Und auch wenn ich nicht die stärksten Finger der Welt habe, die Kraftzuwächse spüre ich an der Wand deutlich.
Diese minimalistische Herangehensweise lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen. Eine Physiotherapeutin hat mir einmal erklärt, dass ich beim Stretching auch mit weniger Zeiteinsatz meine Ziele erreichen könnte. Um mit gestreckten Beinen vornübergebeugt den Boden mit meinen Fingern berühren zu können, würde es im besten Fall schon genügen, mir jeden Morgen in der Vorbeuge die Schuhe zuzubinden. Die halbstündige Dehneinheit nach dem Training, die ich so gern ausfallen lassen habe, bräuchte es also nicht unbedingt. Vielleicht ist das im Falle meiner steifen Knochen doch etwas zu wenig, aber auch hier zeigt sich: Einerseits denken wir oft, mehr machen zu müssen, als eigentlich nötig wäre. Und andererseits kommen wir selbst dann noch voran, wenn wir nur Kleinigkeiten ändern, diese aber konsequent durchziehen.
Jede Reise beginnt mit einem Schritt
Dieser simple Fakt lässt sich wunderbar für das Training genau der Dinge nutzen, auf die wir wenig Lust haben. Es ist wesentlich einfacher, die Motivation für 10 Minuten Arbeit an den Schwachstellen aufzubringen, als sie eine halbe oder ganze Stunde zu beackern. Das gilt besonders dann, wenn es wie das Mobilitätstraining eine schmerzhafte Angelegenheit sein kann. Anstatt also jede Woche ein oder zwei ausgewachsene Einheiten einzuplanen, die man dann unter Vorwand verschiebt, ist es wesentlich sinnvoller, das Training zum Teil des Alltags zu machen. Dass derartige Mikrotrainings gute Ergebnisse liefern, ist für verschiedene Bereiche belegt. Das Konzept ist zum Beispiel als Grease the Groove im Kraftsport bekannt. Von Läufern wird es genutzt, um mit kürzeren Jogging-Runden fit zu werden. Und ich selbst habe erfolgreich damit experimentiert, als ich den einarmigen Klimmzug lernen wollte.
Aber auch bei leistungsstärkeren Kletterern ist dieser Ansatz verbreitet. Sowohl Magnus Midtbø als auch Dave MacLeod haben in der Vergangenheit Videos veröffentlicht, in denen sie Trainingseinheiten vorstellen, die sie (zumindest zu diesem Zeitpunkt) nahezu täglich absolvieren. Das Programm von MacLeod hat mich zu meinem 10-Minuten-Programm für Boulderer inspiriert, das auch für Normalsterbliche möglich sein sollte. Das 5-Minute-Fingers-Training von Andrew Bisharat schlägt in eine ähnliche Kerbe, auch wenn es nicht täglich absolviert werden muss. Was genau er macht, um seine Finger mit wenig Zeiteinsatz fit zu halten, erklärt er in diesem Artikel.
Habitualisierung statt Motivationsloch
Darin spricht Bisharat ganz nebenbei einen der wichtigsten Vorteile des Mikrotrainings an, den ich bisher unerwähnt gelassen habe: Durch die Regelmäßigkeit wird das Training zu einer Gewohnheit, ein fester Bestandteil des Alltags. Hat es diesen Status einmal erreicht, ist fehlende Motivation kein großes Thema mehr. Denn so wie es sich falsch anfühlt, die Zähne nicht zu putzen, wird dir etwas fehlen, wenn du deine kurze Trainingseinheit doch einmal skipst.
Das bringt einen weiteren positiven Nebeneffekt mit. Durch das regelmäßige Training wirst du innerhalb weniger Tage die ersten Fortschritte sehen. Das macht aus deiner eigentlichen Baustelle eine Quelle für Erfolgserlebnisse. Was du bis dato nur mit zusammengebissenen Zähnen erledigt hast, macht auf einmal Spaß. Dadurch kann es vorkommen, dass du an manchen Tagen eine Extrarunde deines Programms durchziehst, weil du noch Energie und Zeit dafür hast. Anstatt dich motivieren zu müssen, wird es dann vielleicht sogar nötig, dich zu bremsen. Hast du mehr gemacht, als du eigentlich geplant hattest, musst du deinem Körper auch mehr Erholung zugestehen.
Es muss nicht täglich sein – und es geht längst nicht nur um Kraft
Klettern ist ein vielseitiger Sport, bei dem Leistung längst nicht nur davon bestimmt wird, ob man einen ausreichend dicken Bizeps oder starke Finger hat. Dementsprechend können deine Baustellen auch komplett anderer Natur sein. Ein klassisches Beispiel ist die Angst davor, dynamisch zu klettern. Dieser Skill ist essentiell, wenn man in höhere Schwierigkeitsgrade vorstoßen will, lässt sich aber schwer abseits der Wand trainieren. Und jeden Tag klettern zu gehen, ist für die wenigsten von uns eine Option. Trotzdem lässt sich auch hier das Konzept des Mikrotrainings anwenden. Schön demonstriert hat das Shauna Coxsey in einem Video mit Hannah Morris vom Youtube-Kanal Hannah Morris Bouldering. In dem Video wollen die beiden eigentlich zeigen, mit welchen Strategien man kurze Klettersessions optimal nutzt. Nebenbei demonstrieren sie aber anschaulich, wie wirksam ein paar Minuten Schwachstellenarbeit sind.
Zu Beginn ihrer Session absolvieren die beiden ein zeitsparendes Warm-up von Shauna, das unter anderem eine simple Dynamikübung enthält, bei der immer beide Hände gleichzeitig weitergezogen werden. Laut der mehrmaligen Weltcup-Siegerin ist das eine der besten Übungen für Menschen wie Hannah, die normalerweise komplett statisch unterwegs sind. Das doppelte Weiterfassen erlaubt es Hannah, sich mit einer sehr zugänglichen Methode auf das vorzubereiten, was später noch kommt. Denn für den Hauptteil ihrer Session hat sie sich auch einen Boulder vorgenommen, der dank weiter Züge mit Schwung geklettert werden muss. Und tatsächlich: Diesen für sie ungewöhnlichen Drill in der Erwärmung zu nutzen, zahlt sich für Hannah aus. Beim Projektieren setzt sie ohne zu zögern Dynamik ein und löst die Crux ihres Projekts schließlich mit einem Sprung – etwas, das für sie denkbar untypisch ist.
Gleicher Zeitbredarf, effektiveres Training
Hannah hat damit eine Möglichkeit zum Mikrotraining genutzt, die tatsächlich jedem von uns zur Verfügung steht: Sie hat die Schwachstellenarbeit zum Teil ihrer Erwärmung gemacht. Das ist eine Taktik, die vor allem bei Technikschwächen wunderbar nutzen lässt – nicht nur, wenn es um Dynamik geht. Genauso gut lässt sich an der Fußarbeit (Übung: Leisetreten), an der Präzision (Übung: kein Nachjustieren) oder an der Körperpositionierung feilen (Übung: Stop and Go-Klettern). So arbeitest du mit etwas, was du ohnehin tun musst – dich warmklettern – an deiner langfristigen Entwicklung als Kletterer. Und das, ohne zusätzliche Zeit investieren zu müssen. Effizienter geht es kaum.
Für mich persönlich ist das Warm-up die Lösung für meine Abneigung gegen Stretching geworden. Seit einigen Jahren starte ich mit einem etwa zehnminütigem Yoga-Flow in mein Training. So stelle ich sicher, dass ich meinen vollen Bewegungsspielraum nutzen kann und dass ich mein Mobility-Training nicht unter Vorwand skippe. Dein Aufwärmprogramm auf deine Schwachstellen auszurichten, ist deshalb einer der nützlichsten Motivationshacks, den du dir bei den Profis abschauen kannst.