Für uns Europäer liegt die Wiege des Boulderns in Fontainebleau. An den französischen Sandsteinfelsen wurde von Alpinisten schon Ende des 19. Jahrhunderts geklettert. Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich daraus immer mehr eine eigene Spielart des Sports. Bis zum modernen Bouldern war es von dort aus aber ein weiter Weg. Buchstäblich: Vieles, was das heutige Bouldern ausmacht, ist jenseits des großen Teiches entstanden und geht vor allem auf einen Mann zurück: John Gill. Obwohl Gill niemand war, der sein Leben komplett dem Klettersport verschrieben hat, veränderten seine Philosophie und Leistungen das Bouldern und Klettern entscheidend.
Anfänge und die erste Revolution im Klettern
Gill kam1937 in Alabama zur Welt und hatte in jungen Jahren wenig Interesse an Sport. Er begeisterte sich eher für wissenschaftliche Themen. Eine Passion, die seinen beruflichen Werdegang prägte, ihn letztlich aber auch mit seiner sportlichen Leidenschaft in Kontakt brachte. Nach seinem Studium forschte und lehrte er als Mathematiker, vor seinem Ruhestand als Professor an der University of Southern Colorado. Obwohl das allein vermutlich bereits einiges an Hingabe erforderte, schaffte Gill es quasi nebenbei, einer der stärksten Kletterer seiner Zeit zu werden und es auch über zwei Jahrzehnte zu bleiben.
Dabei stolperte Gill zufällig über den Sport. Auf einem Ausflug für Amateurarchäologen kletterte er 1953 mit 16 Jahren das erste Mal und war Feuer und Flamme. Nach Abschluss der Highschool stürzte sich Gill gemeinsam mit einem Freund in seine ersten größeren Kletterabenteuer. Ein Jahr später, 1954, schrieb er sich am Georgia Institute for Technology ein und hatte sein zweites, aus sportlicher Sicht prägendes Erlebnis. An der Tech belegte er einen Kurs im Turnen. Obwohl er erneut keine Vorerfahrung vorzuweisen hatte, kassierte er am Ende ein A und fand seine zweite große Passion. Vor allem die Ringe hatten es ihm angetan.
Trotz des Turnens versuchte Gill weiterhin, so viel Zeit wie möglich am Fels zu verbringen. Für sein Training nutzte er aber auch andere Klettergelegenheiten wie die Mauern der Gebäude auf dem Campus. Beim Turnen lernte er die Vorteile von Magnesia kennen und erkannte sofort das Potenzial fürs Klettern. Das weiße Pulver begleitete ihn ab diesem Zeitpunkt auf seine Kletterausflüge, wo er es auch anderer Felsenthusiasten vorstellte. Obwohl nicht jeder seiner Zeitgenossen sofort überzeugt war und der Einsatz von Chalk über die Jahre heftige Diskussionen in der Szene auslöste, setzte Gills Idee sich letztlich durch. Knapp 70 Jahre später ist der Einsatz von Magnesia weltweit fester Bestandteil der Kletterkultur.
Sowjetische Vorbilder und ein neuer Blick auf das Klettern
Das Turnen blieb für Gill in den nächsten Jahren die größte Inspirationsquelle. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war der plötzliche Durchbruch sowjetischer Turner auf internationaler Bühne zu Beginn der 1950er Jahre. Vor allem der Armenier Albert Asarjan, ein Dorfschmied, der sich an die Weltspitze turnte, beeindruckte den jungen Studenten. Asarjans Turnstil an den Ringen war geprägt von außergewöhnlicher Kontrolle und Kraft, aber gleichzeitig dynamisch. Als wäre das allein nicht genug, deklassierte er seine Konkurrenz, indem er selbst schwerste Turnelemente lächelnd absolvierte. In den folgenden Jahren versuchte Gill, Asarjans Stil für sich zu adaptieren, so gut es ihm möglich war.
Zeitgleich veränderte sich seine Sicht auf den Klettersport. Während seine Zeitgenossen das Klettern bis dahin als eine extreme Form des Wanderns betrachtet hatten, sah Gill eher eine Verwandtschaft zum Turnen. Ihm ging es nicht mehr nur darum, von unten nach oben zu kommen. Die Frage nach dem Wie nahm für Gill einen immer größeren Stellenwert ein. Das spiegelte sich in der Auswahl seiner Kletterprobleme wider. Er begann kürzere, aber schwierige Routen zu bevorzugen. Sein Ziel wurde es, schwerste Bewegungen auf ästhetisch befriedigende Art zu klettern, wie er es auch vom Turnen kannte. Dabei ging Gill so weit, eine Linie erst dann als wirklich gemeistert anzusehen, wenn er sie mit einer gewissen Leichtigkeit lösen konnte. Sein Verständnis von gutem Stil unterschied sich allerdings von unseren heutigen Ansichten. Heel-Hooks zum Beispiel lehnte Gill ab, weil ihn diese Technik zu sehr an den Kletterstil eines Affen erinnerte.
Vordenker einer neuen Kletterschule
Ebenfalls neu war seine Begeisterung für dynamische Bewegungen. Diese stand im krassen Gegensatz zu den althergebrachten Regeln, die einen statischen Kletterstil zum Nonplusultra erklärten. Für Gill war Dynamik ein definierendes Element des Boulderns. In seinem 1969 veröffentlichten Artikel „The Art of Bouldering“ widmete er der richtigen Verwendung von Dynamik einen eigenen Absatz. Darin erklärte Gill, dass kontrollierter Einsatz von Schwung entgegen der damaligen Ansicht keine schlechte Technik, sondern eine Möglichkeit sei, anderweitig nicht kletterbare Probleme zu bewältigen. Die Drei-Punkt-Regel hatte für ihn keine Gültigkeit mehr, womit sich völlig neue Wege des Kletterns eröffneten. Kletterer, die Gills Ideen teilten, spielten nicht nur mit Sprüngen, sondern versuchten Routen freihändig oder hangelnd zu bezwingen. Für Gill selbst war der Einsatz von Dynamik zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels bekanntes Terrain. Nach eigener Aussage hatte er schon 1955 begonnen, mit dem kontrollierten Einsatz von Schwung zu experimentieren.
The Art of Bouldering ist nicht nur deshalb bemerkenswert. Mit dem Artikel leistete Gill zusätzlich Grundlagenarbeit beim Thema des modernen Klettertrainings. Er stellt eine Reihe von Übungen vor, die fürs Bouldern nützlich sein sollen. Wenig überraschend greift er auch hier auf Dinge zurück, die aus dem Turnen kommen oder davon inspiriert sind. Übungen wie die Hangwaage, der Muscle-up oder der einarmige Klimmzug seien zwar nicht essenziell fürs Bouldern, würden laut ihm aber den Kletterstil verfeinern und so auch abseits der schwersten Boulderprobleme Vorteile bringen. Gleichzeitig betont er die Wichtigkeit des Fingertrainings. Hier schlägt er Klimmzüge im Pinch-Grip an verschieden breiten Stangen, einarmige Klimmzüge an Türrahmen oder einarmige, einfingrige Klimmzüge vor, um die nötige Kraft aufzubauen. Übermäßigen Muskelaufbau lehnt er mit Blick auf das Verhältnis von Gewicht und Kraft ab. Für ihn waren Eigengewichtsübungen deshalb das Mittel der Wahl.
In der Leistung Jahrzehnte voraus
Dass Gill die richtigen Ansätze verfolgte, zeigen seine Leistungen. Nur fünf Jahre nach seinen ersten Kletterversuchen gehörte er zur Elite des Sports. Schon 1958 gelang ihm mit „Gill Right Problem“ in den Tetons ein Boulder, der heute als weltweit erste 7B gilt. 1959 folgte mit dem „Red Cross Rock Eliminate“ eine Linie, die heute mit 7C bewertet wird. Zum Vergleich: In Fontainebleau, wo das Bouldern bereits Jahrzehnte Tradition hatte, wurden in diesem Zeitraum die ersten 7As erschlossen. Bis Gills Leistungen überboten werden konnten, dauerte es noch 16 Jahre. Mit Jim Holloway, dem 1975 die erste 8A gelang, brauchte es einen echten Vollzeitkletterer, um Gills Rekord einzustellen. Der Boulderpionier war zu diesem Zeitpunkt noch immer an der Spitze unterwegs. Seine Bestleistung lieferte er 1978 mit der Erstbegehung von „The Groove“ ab, einer 7C+.
Gill setzte auch in anderen Bereichen des Kletterns Maßstäbe. Mit seiner Begehung der Route „Thimble Overhang“ etablierte er 1961 die erste 5.12a, was der ersten 8+ UIAA der Welt entspricht. Das Außergewöhnliche dabei: Bei der Erstbegehung war Gill free solo unterwegs, ohne die Beta zu kennen. Bei seinen vorherigen Besuchen hatte er nur den unteren Teil der 10-Meter-Wand ausgebouldert. Ohne echte Kletterschuhe, ohne Spotter und ohne Crashpad war das selbst für jemanden wie ihn, für den ein gewisses Risiko Teil des Boulderns war, eine Grenzerfahrung.
Athlet durch und durch
Abseits des Kletterns war Gill zu ähnlich beeindruckenden Leistungen in der Lage. Die von ihm in The Art of Bouldering vorgeschlagenen Übungen gehörten zu seinen Standards. Zu seinen besten Zeiten war der Amerikaner in der Lage, ein halbes Dutzend einarmige und mehrere einfingrige Klimmzüge am Stück zu machen. Die Hangwaage und den Handstand konnte er beid- und einarmig halten. Fähigkeiten, die heutzutage für eine Karriere als Fitness-Influencer ausreichen würden.
Auch nachdem er seinen Zenit Ende der 1970er Jahre erreichte, ist Gill ist dem Klettern treu geblieben. Seine Kletterschuhe hängte er erst 2008 im Alter von 71 Jahren an den Nagel – nach 55 aktiven Jahren. Das Turnen verfolgte er danach weiter, selbst wenn ihm seine Gesundheit das in den letzten Jahren immer schwerer gemacht hat. Trotz eines Rückenleidens und schwerer Arthritis in den Schultern versucht er, im Rahmen seiner Möglichkeiten weiterzutrainieren. Ein vor fünf Jahren auf seinem Youtube-Kanal gepostetes Video zeigt ihn als 80-Jährigen beim Klimmzugtraining und Hangeln auf einem Spielplatz. Trotz aller Probleme fällt es ihm nach eigener Aussage schwer, den Sport komplett aufzugeben. Mit dieser Einstellung wird John Gill wohl auch in Zukunft als Vorbild taugen.