Boulder sind keine Leitern. Das ist eine der ersten Erkenntnisse, die sich einstellt, sobald man die Wohlfühlzone der Kletterprobleme für absolute Neulinge verlässt, die es in nahezu jeder Halle gibt. Ab diesem Punkt wartet eine Welt immer komplexerer Bewegungen darauf, erkundet zu werden. Vom einfachen Links-rechts-links-rechts-Schema muss man sich da verabschieden. Routen lesen zu können, ist deshalb eine der wichtigsten Fähigkeiten im Klettersport. Vor allem, wenn es irgendwann nicht mehr reicht, nach zig Versuchen zum Top zu kommen, sondern wenn neue Probleme möglichst im Flash fallen sollen.
Der erste Schritt: Griff- und Trittsuche und Ausmachen der Linie
Klar muss sein, dass das Routenlesen damit beginnt, sich das Problem genau anzuschauen. Wo sind Tritte, wo Griffe und wie lassen sich diese am besten greifen. Ist die Grifffläche an einem Ende besser oder schlechter, sloprig oder hinterschnitten? Diese Informationen zu bekommen und zu verinnerlichen, ist bereits ein erster wichtiger Schritt zu einem Plan, der beim Durchstiegsversuch auch tatsächlich aufgeht.
Gleichzeitig kannst du dich an die Analyse des Routenverlaufs machen. Dabei stellst du dir die Route wie eine Linie vor, die sich zwischen den zugehörigen Griffen und Tritten entlangschlängelt. Der Linienverlauf und die Verteilung der Griffe und Tritte verrät dir, an welchem Punkt des Boulders du dich wie mit dem Körper positionieren solltest. Gleichzeitig erhältst du dadurch Hinweise darauf, mit welcher Hand du die vorhandenen Griffe nehmen musst. Im einfachsten Fall – wenn die Route gerade nach oben führt und ohne komplexere Bewegungen auskommt – werden diejenigen, die links der Linie liegen auch mit der linken Hand genommen, während die rechts liegenden Griffe der rechten Hand vorbehalten sind.
Das wird natürlich nicht immer so sein. Im Normalfall sind die Handbewegungen etwas komplexer und es ist längst nicht gesagt, dass Griffe auf einer Seite der Linie mit der Hand der gleichen Seite gegriffen werden müssen. Ein typisches Beispiel dafür wäre, dass sich mehrere Griffe in direkter Nachbarschaft übereinander befinden. Das eröffnet einerseits die Möglichkeit, einen der Griffe nur als Zwischengriff zu nutzen und direkt weiterzuschnappen. Es kann es aber auch nötig machen, den Körper seitlich des Linienverlaufs zu positionieren und erst dann wieder zurückzukehren, wenn auf der gegenüberliegenden Seite erneut Griffe auftauchen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Griffkombination einen Kreuzer nötig macht, bei dem ein links liegender Griff mit rechts oder ein rechts liegender Griff mit links genommen wird. Typisch sind Kreuzzüge für Traversen oder Linien, die zumindest teilweise die Wand queren, können aber auch bei Bouldern auftreten, die die Wand gerade nach oben führen.
Die Suche nach der Handbeta und möglichen Körperpositionen
Herauszufinden, was das Griffangebot des jeweiligen Boulders nötig macht, ist der nächste Schritt bei der Planung des Durchstiegs. Dazu solltest du die Route im Kopf durchgehen und dabei die Handbewegungen nachvollziehen. Wie so etwas aussehen kann, hast du vermutlich schon einmal beobachten können, wenn ein Kletterer kurz vor dem Einstieg die Route noch einmal betrachtet und mit den Händen herumfuchtelt. Sinn dieser Übung ist es, sich die Sequenz einzuprägen und noch einmal ihre Machbarkeit zu prüfen. Dafür wird der Durchstieg im Kopf gestartet und überlegt, mit welcher Hand man den jeweils nächsten Griff nehmen muss.
Dabei können durchaus auch mögliche Körperpositionen durchgespielt werden. Hinweise darauf liefert wiederum die Neigung der Griffe. Jeder Griff hat eine optimale Belastungsrichtung. Zieht man aus dieser an oder bringt aus dieser Druck auf die Grifffläche, findet man am ehesten Halt. Offensichtlich ist das besonders bei Leisten, die am einfachsten zu halten sind, wenn die aufgebrachte Kraft im 90-Grad-Winkel auf die Grifffläche wirkt. Je weiter man davon abweicht, desto anstrengender wird es, nicht abzurutschen. Dieses Prinzip gilt auch für Henkel oder Sloper.
Die Neigung des Griffs entscheidet deshalb auch darüber, wie du deinen Körper im Verhältnis zu ihm positionieren musst. Während es beispielsweise sinnvoll ist, mit dem Körper unter einem nach oben geöffneten Griff zu bleiben, musst du bei einem seitlich geneigten Griff von der Seite Zug oder Druck aufbauen – sei es, indem du dich in den Griff hängst, dich mit den Füßen hineindrückst oder ihn auf Schulter nimmst.
Was machen die Füße?
An diesem Punkt sollte sich bereits ein recht solider Schlachtplan herauskristallisiert haben. Willst du diesen noch weiter perfektionieren, muss du auch die Tritte auf dem Schirm haben. Hier wird es allerdings schwierig, allgemeine Empfehlungen zu geben, weil schon minimale Änderungen bei der Position der Tritte einen großen Einfluss darauf haben, wie Züge ausgeführt werden müssen – trotz gleicher Griffpositionen. Hier steht jeder Boulder, jede Route für sich allein. Sich eine vollständige Fußbeta zurechtzulegen macht vor allem dann Sinn, wenn es ohnehin nur wenige Trittmöglichkeiten gibt und Griffe und Tritte so klein sind, dass Fußwechsel schwierig werden. Andernfalls darf man sich hier durchaus auch mal auf die Intuition verlassen. Ist der Boulder sehr lang, kann es ohnehin schwer werden, sich jeden Zug einzuprägen. Dann ist es besser, sich auf die Krux zu konzentrieren.
Der konkretesten Tipp, den ich dir geben kann, betrifft die Wahl des richtigen Tritts, wenn mehrere zur Auswahl stehen. Bei Zügen nach oben liegt der Tritt idealerweise in einem Bereich zwischen Hüfte und Knie. Nicht so hoch, dass du dich buchstäblich zusammenfalten musst und dadurch den Körperschwerpunkt aus der Wand schiebst, aber auch nicht so niedrig, dass du dich auf Zehenspitzen stellen musst, um den nächsten Griff zu erreichen. Willst du den Kraftaufwand bei Zügen quer zu Wand niedrig halten, achtest du darauf eine Trittmöglichkeit zu nehmen, die mittig zwischen deinem Start und Zielgriff liegt. Das erlaubt es dir, während des Zugs viel Gewicht auf den Fuß zu verlagern. Liegt der Tritt näher am Zielgriff, brauchst du mehr Kraft, um dich in die Richtung zu schieben, ist er nah am Startgriff, wird die Position am Ende des Zugs unter Umständen instabil.
Planen, umsetzen, analysieren, planen…
Hast du alle Punkte berücksichtigt, also den Linienverlauf im Blick, alle Tritte und Griffe ausgecheckt und mögliche Körperpositionen abhängig von den Griffneigungen und Trittmöglichkeiten identifiziert, kannst du das Ganze noch ein letztes Mal durchgehen und dich an den Durchstieg wagen. Waren deine Ideen korrekt, dürfte allenfalls fehlende Kraft den Weg zum Top versperren. Falls einzelne Züge nicht so aufgehen, wie du es dir gedacht hast, bleibt zumindest das Wissen über Griffe und Tritte, was es dir ermöglicht, auf dieser Basis zu improvisieren.
Aber selbst wenn das nicht klappt, solltest du dich nicht entmutigen lassen. Analysiere stattdessen, was schief gelaufen ist, mach einen neuen Plan und probiere alternative Lösungen aus. Routenlesen ist auch eine Erfahrungsfrage. Kennst du bestimmte Bewegungen noch nicht, kannst du diese kaum vorhersehen. Deshalb macht es ein wachsendes Bewungsrepertoire möglich, immer komplexere Bewegungsrätsel schon auf den ersten Blick zu knacken. Sich frühzeitig Gedanken über mögliche Lösungen zu machen und nicht ständig einfach nur drauflos zu klettern, kann diese Entwicklung beschleunigen.
Ein Gedanke zu „Routen- und Boulderlesen: Taktiken zum Entschlüsseln des Bewegungslabyrinths“